4. Gibt es schamanische Einflüsse in unserer „abendländischen“ Kultur?
Der Vorwurf, Neoschamanismus sei „kultureller Diebstahl“ an traditionellen Stammeskulturen geht oft einher mit dem, dass jedes Gerede über „Europas schamanische Wurzeln“ Unsinn sei.
Tatsächlich sind viele, wenn nicht die meisten, Behauptungen, die man auf vielen Neoschamanen-Websites und in manchen Schamanisimus-Büchern findet, Anlässe äußerst skeptisch zu sein. Dass viele „neue Hexen“ und keltisch oder germanisch orientierte Neuheiden dazu neigen, Spekulationen und Fiktionen über die Wurzeln der jeweilige Tradition für bare Münze zu nehmen, verschärft das Problem noch. Viele pseudowissenschaftliche „Theorien“ entstanden nach dem Prinzip: Verlege die Fundamente deiner „Theorie“ in Nischen der Geschichte und Geographie, in denen sich kaum jemand auskennt. Wobei es nicht einmal erforderlich zu sein scheint, dass der Pseudogelehrte selbst in den betreffenden Nischen Bescheid weiß. Notfalls kann man als Pseudo-Experte für Vor- und Frühgeschichte immer noch nach Atlantis oder Hyperborea ausweichen …
Orpheus, römisches Mosaik aus Area Flaviae (heute Rottweil).
Das Problem, nach verschütteten oder vergessenen Wurzel suchen zu müssen, stellt sich für angehende Schamanen und Schamaninnen in traditionellen schamanischen Gesellschaften normalerweise nicht. Sie erlernen von ihren Lehrern einen Schamanismus, dessen Symbolik, Kosmologie, Ritualtechnik usw. als ein mehr oder minder einheitliches und von Stammesangehörigen anerkanntes System funktioniert. Selbst dort, wo Missionare, Kolonialherren oder staatliche Umerziehung die jeweilige Tradition gestört haben, weiß ein schamanisch Berufener wenigstens, wo und wonach er oder sie zu suchen hat.
Anders sieht es für die Angehöriger einer europäisch geprägten Kultur aus. Europa ist, was Schamanen angeht, ein Sonderfall. Das „christliche Abendland“ ist im Großen und Ganze eine deutlich nicht-schamanische, vielleicht sogar anti-schamanische, Kultur.
Vor allem in protestantisch geprägten Ländern und Regionen ist das Misstrauen gegen Ekstase und mystisches Erleben traditionell groß. Die protestantische Konfession ist traditionell vom Wortgottesdienst und vom Pflichtethos geprägt – für ekstatische Formen der Spiritualität ist da wenig Platz. Für einen traditionellen Protestanten ist der Verlust von Kontrolle grundsätzlich schlecht. Entsprechend verhält sich ein Schamane aus traditionell-protestantischer Perspektive moralisch falsch, Schamanen sind also Lügner und Betrüger, und Schamanismus kann nichts nichts als primitiver Aberglauben sein. Aus evangelikal-fundamentalistischer Sicht ist er sogar Teufelsanbetung.
Etwas anders ist die Situation bei den Katholiken. Ein traditioneller Katholik akzeptiert sehr wohl , dass es Ekstase und Mystik gibt. Er unterscheidet aber streng zwischen heiligen, sündigen oder dämonisch besessenen Formen des „Außer-Sich-Seiens“. Schamanismus erscheinen in dieser Weltsicht mitunter ebenfalls als Teufelszeug. In Lateinamerika gibt es jedoch zahlreiche Beispiele einer gelungenen Symbiose zwischen schamanischem und katholischem Glaubensvorstellungen, während ich auch nach längere Recherche kein Beispiel einer Symbiose zwischen traditionellem Protestantismus und Schamanismus nennen könnte. Im Rahmen des „New Age“ und des „spirituellen Supermarktes“ vor allem in den USA gab und gibt es auch protestantische Schamanen, aber das sind Randerscheinungen, die von den großen evangelischen Kirchen allenfalls geduldet werden. Ähnlich wie im Katholizismus sieht es für das orthodoxe Christentum aus. Es gibt in Sibirien sowohl Beispiele für eine Verteufelung des Schamanismus wie für gelungene Symbiosen zwischen Schamanismus und Christentum.
Seit dem 19. Jahrhundert prägt neben dem Christentum auch der Materialismus in seinen unterschiedlichen Spielarten die „westliche“ Kultur. Die Weltsicht eines Materialisten kann aufgeklärt sein, muss es aber nicht. Vor allem aus der Perspektive wenig aufgeklärter und wenig reflektierender Materialisten erscheint der Glaube an Geistreisen entweder Symptom einer Geisteskrankheit („Schamanen sind Schizophrene“) oder als finsterster Aberglaube und Dummenfang.
Wer sich ein wenig mit dem Umgang der jeweiligen Eroberernationen mit „eingeborenen“ Schamanen beschäftigt, wird diese unterschiedlichen weltanschaulich bestimmten Sichtweisen wiedererkennen.
Daneben gab es auch immer wieder eine romantisiert-verklärt erhöhende Sichtweise auf den Schamanismus „exotischer Völker“, der die armen „sprituellen Handwerker“ dieser Völker schwerlich gerecht werden können.
Europa und die von Europa aus besiedelten Gebiete anderer Kontinente sind also die Hochburgen des Anti-Schamanismus. Anderseits gibt es Indizien dafür, dass das vorchristliche Europa, ähnlich wie das benachbarte Asien, deutlich schamanisch geprägt gewesen sein könnte. Im Norden und Osten, in den Regionen, die unmittelbar an das „nordasiatische Schamanengebiet“ angrenzen, ist Schmanismus nachgewiesen – dazu weiter unten mehr. Für den großen „Rest“ Europas lässt sich nur sagen, dass es „in grauer Vorzeit“ Schamanismus gegeben haben könnte, Sehr wahrscheinlich ist Schamanismus in der jüngeren Altsteinzeit. Bei jüngeren Epochen gibt es das Problem, dass scheinbar typisch schamanische Praktiken nicht unbedingt schamanisch sein müssen.
Ein Beispiel für eine Praxis aus dem „schamanischen Umfeld“ ist die Schwitzhütte. Sie ist, so wie sie heute von europäischen Neoschamanen praktiziert wird, eine Übernahme – manche sagen: ein Plagiat – der Schwitzhütten nordamerikanischer Indianer, zum Beispiel der Mandanen. Allerdings stammte die heutige Sauna ebenso wie das römische oder türkische Schwitzbad von den Schwitzhütten nord- und osteuropäischer und vorderasiatischer Völker ab. Aber ob diese Schwitzhütten über die Körperpflege und das Wohlbefinden hinaus eine rituelle oder spirituelle Bedeutung hatten, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Der altgriechische Historiker Herodot schrieb über die Schwitzhütten der Skythen, dass sie mit dicken Decken abgedeckt wurden, und dass in ihnen berauschender Hanfsamen verwendet wurden. Das könnte auf schamanische Schwitzhütten-Rituale hinweisen, diese Schlussfolgerung ist aber nicht zwingend.
Oft wird die Ausbreitung des Christentums für das „Verschwinden des heidnischen Schamanismus“ in Europa verantwortlich gemacht. Das ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Völlig falsch ist die daraus abgeleitete fixe Idee, die in einer feindlichen natürlichen Umwelt entstandenen „Wüstenreligionen“ Judentum, Islam und Christentum stünden den „alten Naturreligionen“ Europas und deren schamanischen Praktiken „natürlicherweise“ unversöhnlich gegenüber. Im Gegenteil, es gibt sogar in der Bibel Beschreibungen von ekstatische Techniken und Seelenreisen, man denke nur an die Himmelsleiter, von der Jakob träumte. Später grenzten sich die Israeliten stärker von ihrer heidnischen Umgebung ab – während Jakob z. B. noch Träume deutete, galt Traumdeutung später als ein Gräuel. Völlig ausgestorben ist die mystisch-ekstatische Praxis jedoch nie. Sowohl im Judentum wie im Christentum und vor allem im Islam – man denke nur an die Sufis – gibt es ekstatische Formen der Gottesverehrung. Mit Schamanismus haben sie aber nur am Rande zu tun.
Ob in Europa, abgesehen vom äußersten Osten und Norden, nach der mittleren Steinzeit noch schamanisiert wurde, ist umstritten. Für die Jungsteinzeit und die Bronzezeit ist Schamanismus nicht bewiesen. Es gibt viele Hinweise auf eine „Priesterastronomie“ und auf magische Praktiken, aber eindeutig lässt sich Schamanismus nicht aus den Artefakten ablesen. Da schriftliche Überlieferungen aus dieser Zeit fehlen, kann die Bedeutung mancher magischer Gegenstände nur geraten werden.
Die älteste und am wenigsten lückenhafte schriftliche Überlieferung innerhalb Europas findet sich in der griechischen Kultur. In der griechischen Mythologie gibt es tatsächlich an schamanische Reisen erinnernde Motive. Heroen wie Herakles und Odysseus reisen in die Unterwelt, wobei sie sich Trancetechniken bedienen. Allerdings ist die griechische Mythologie, wie sie sich z. B. aus der Werken Homers und Hesidods erschließen lässt, relativ arm an schamanischen Elementen.
Sehr viel deutlicher sind die schamanischen Elemente in der Orphik, einer spirituellen Strömung, die ab ca. 600 v. u. Z. die griechische Kultur beeinflusst. Nach traditioneller Ansicht stammt sie aus den Bergen Thrakiens, es wird aber auch versucht, die Orphik auf die östlichen Wurzeln der skytischen Stämme der russischen Steppe zurückzuführen. Ihr zentraler Mythos ist die Unterweltreise des thrakischen Sänger und Musikers Orpheus. Er stieg in die Unterwelt herab, um seine Geliebte Eurydike zurück zu holen, die an einem Schlangenbiss gestorben war. Mit seiner Musik betörte er den Fährmann Charon, den Wachhund Cerberus und die drei Richter des Todes. Er entzückte Hades, den Herrn der Unterwelt so sehr, dass er Eurydike frei gab – unter der Bedingung, dass Orpheus sich nicht nach ihr umdrehen dürfte, bis er die Welt der Lebenden erreicht hätte. Eurydike folgte dem Spiel seiner Kythara. Kurz vor dem Verlassen der Unterwelt konnte Orpheus der Versuchung nicht widerstehen, drehte sich kurz um, und Eurydike verschwand für immer.
Dieser Mythos entspricht verblüffend genau den Schilderungen, die Schamanen von ihren Unterweltreise geben. Typische schamanische Themen sind die Überwindung der Wächter und die Verhandlungen mit dem Herrn der Unterwelt.
Die Orphiker verehrten besonders Dionysos, Gott der Ekstase, des Lebens, der zeugenden Natur. Da die Orphik bald mit der älteren hellenischen Religion und Mythologie verschmolz, wurde Dionysos trotz seiner „halbbarbarischen“ Herkunft schon recht früh unter die olympischen Götter aufgenommen. Dionysos (oder Baccus) wurde in der Baccanialien in enthusiastischer Erdnähe verehrt.
Die Saturnalien, das ekstatische Fest der Römer, enthält ebenfalls schamanisch anmutende Elemente, die vielleicht auf die Etrusker zurückgehen. Leider ist die Überlieferung der etruskischen spirituellen Welt so lückenhaft, dass auch hier wenigen Fakten viel Spekulation gegenübersteht. Immerhin weist die etruskische Kunst auf eine intensive Beschäftigung mit dem Thema „Unterwelt“ und „Anderswelt“ hin.
Einen auf den ersten Blick überraschenden möglichen Hinweis auf kulturelle Verbindungen zwischen Europa, hier dem antiken Griechenland, und den schamanische Kulturen Nordasiens und Amerikas bieten die Tierfabel, die zum Beispiel dem Dichter Aesop zugeschrieben werden. Es gibt Tiermythen der Eskimos und der Indianer der Pazifikküste, die bis zum Wortlaut mit „aesopischen“ Fabeln übereinstimmen. Der skeptische französische Polarforscher Jean Malaurie hatte sogar den Verdacht, dass der Polarforscher und Ethnologe Knud Rasmussen den Eskimos einfach „europäische“ Fabeln in den Mund gelegt haben könnte. Da von solchen Fabeln aber auch aus der Zeit vor Rasmussen und aus Regionen, die er nie bereiste, berichtet wurde, ist Malauries Verdacht allerdings unberechtigt.
Neben Fabeln und Mythen geben auch Volksmärchen Hinweise auf eine mögliche „vergessene“ schamanische Schicht der europäischen Kulturen. In erstaunlich vielen Zaubermärchen taucht das Motiv der aus dem Schamanismus bekannten drei, sieben oder neun „Weltebenen“ auf, wobei diese Ebenen mit einer Weltenachse verbunden, die zum Reisen durch die „Anderswelten“ dienen. Auch die Helfertiere und die hilfreichen Ahnengeistern des Schamanen lassen sich in Zaubermärchen wiedererkennen. Die Weltenachse erscheint im Märchen als himmelhoher Baum, als bis in den Himmel reichende Ranke, aber auch als Turm, als Weltberg (Glasberg), als Himmelsseil bzw. Kette, als Regenbogen oder Schlange – und manchmal auch als endlos tiefer Brunnen („Frau Holle“). Die von sibirischen Schamanen bekannte Vorstellung von der Seelenverwahrung in einer Art „andersweltlichem Schließfach“ liegt auch dem grimmschen Märchen „Der gläserne Sarg“ zugrunde.
Für die keltische Mythologie ist eine ausgeprägte Anderswelt-Thematik typisch. Die bekannteste diese parallelen Welten – denn es gibt mehr als eine – ist die Welt der Sidhe, oft als „Feen“ oder „Elfen“ übersetzt. Zwischen der Menschenwelt und den Anderswelten bestehen enge Beziehungen. In keltischen Sagen sehr häufig ist das Motiv, dass jemand in Trance oder einen traumreichen Schlaf fällt und dann in einer anderen Welt aufwacht. Inwieweit solche Motive wirklich auf verschüttete schamanische Traditionen zurückgehen, oder ob die Druiden schamanische Techniken verwendeten, worauf etwa die Sagen um Merlin hindeuten könnten, ist – wieder einmal – reine Spekulation. Die Druiden gaben ihr Wissen nur mündlich weiter, ihr Wissen starb mit ihnen.
Für den „Hauptstrom“ der europäischen Kultur lassen sich allenfalls, vor allem anhand von Sagen und Mythen, schamanische Elemente im weitere Sinne vermuten. Aber selbst der manchmal beim Thema Schamanismus überschwängliche Kulturwissenschaftler Eliade räumte ein, dass diese mythologischen Bruchstücke nicht zum Gesamtbild einer schamanischen Kultur im vorchristlichen Europa führen.
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MUSTER, Wilhelm: Der Schamanismus und seine Spuren in der Saga, im deutschen Brauch, Märchen und Glauben, Dissertation Graz 1947
Beste Grüße, Sylvia Wohlfarter