3.Ist Schamanimus ein weltweites Phänomen?
Nicht nur der Begriff Schamane stammt von den Ewenken bzw. Tungusen. Dieses sibirische Volk stellt sozusagen den „ethnologische Prototyp“ des Schamanismus dar.
Bereits im 18. Jahrhundert erkannten europäische Forschungsreisende, wie der in russischen Diensten stehende deutsche Geograph Georg Wilhelm Steller, dass es auch bei Völkern außerhalb Zentralsibiriens spirituelle Spezialisten gab, die ähnliche Aufgaben übernahmen, ähnliche Methoden verwendeten und ein vergleichbares Weltbild wie die sibirischen Schamanen hatten.
Im 19. Jahrhundert wurde es üblich, den Begriff „Schamanismus“ auf die den Praktiken der sibirischen Schamanen ähnliche Erscheinungen überall auf der Erde anzuwenden.
Weil sich einige schamanische Vorstellungen und Praktiken fast überall auf der Erde finden, sehen nicht nur Anhänger Mircea Eliades den Schamanismus als universelles Phänomen an.
Eine schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gängige Vorstellung ist, dass jede Kultur eine „schamanische Phase“ durchlaufen würde. Nach einem damals weit verbreiten evolutionistischen Geschichtsmodell wurden zeitgenössische „primitive“ Kulturen mit den steinzeitlichen Kulturen der europäischen Vorgeschichte gleichgesetzt. Auf der Annahme, dass etwa die australischen Ureinwohner sozusagen den Urmenschen konserviert hätten, bauten sogar solche Größen wie Freud, Malinowski oder Durkheim ihre Hypothesen auf. In den Völkern des nördlichen Sibiriens sah man ein Modell für die europäischen Jägervölker der letzten Eiszeit.
Schamanentrommeln und Ritualgewand der Jakuten Foto: Volkmar Kuhnle
Weil es bei diesen nordsibirischen Völker Schamanen gibt, spekulierten die Gelehrten des späten 19. Jahrhunderts, dass der Schamanismus bereits in frühester Vergangenheit verbreitet gewesen sein müsste.
Obwohl die eurozentrische Idee, „primitive“ Völker seien einfach in ihrer Entwicklung den „Kulturvölkern“ um mehrere zehntausend Jahre „zurückgeblieben“ in der Ethnologie genau so passé ist, wie der naive Evolutionismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, konnte sich die Hypothese des prähistorischen Schamanismus halten. Die Spekulationen der damaligen Wissenschaft werden, obwohl sie von falschen Annahmen ausgingen, anscheinend durch archäologische Erkenntnisse bestätigt.
Ein profilierter Vertreter der These, dass schon die steinzeitliche Jäger im Aurignacien (um 13.000 v. u. Z.) schamanisch gearbeitet hätten, ist der Archäologe Horst Kirchner. Als Indiz deutetet er zum Beispiel eine bekannte Zeichnung aus der Höhle von Lascaux: Sie zeigt einen Vogelkopf auf einer Stange, einen Bison und einen Mann mit offensichtlichem Ithyphallus in Schräglage. Kirchner zufolge handelt es sich um die Darstellung einer schamanistischen Geisterbeschwörung mit Hilfsgeist (Stangenvogel), Schamane (Mann) und Opfertier (Bisonstier). Der berühmte „tanzende Zauberer“ aus der Höhle von Les Trois Frères, ein Mann mit Geweih, Pferdeschweif, Bärenpranken und eindeutig menschlichen Beinen, wird auch von anderen Forschern als Schamane gedeutet.
Es gibt ähnliche Felszeichnungen unterschiedlichen Alters – vom Eiszeitalter bis in die Neuzeit – in anderen Teilen der Erde, beispielsweise in Südafrika oder in Nordaustralien. Sie sind aber allenfalls ein Beleg dafür, dass es dem Schamanismus ähnliche Praktiken gab.
Es gibt aber auch handfestere Hinweise auf Schamanismus in der jüngeren Altsteinzeit. 2008 fanden Archäologen in einer 12.000 Jahre alten Grabstätte in Israel Artefakte, die schamanistisch sein könnten. Das Grab enthielt nicht nur das Skelett einer zierlichen, etwa 45 jährigen, wahrscheinlich gehbehinderten Frau, sondern auch 50 Schildkrötenpanzer und ausgewählte Körperteile eines Wildschweins, eines Adlers, einer Kuh, eines Leoparden, einer Gazelle und von zwei Mardern. Sogar ein vollständiger menschlicher Fuß gehörte dazu. Die Beerdigungsrituale und die Art, wie das Grab gebaut und versiegelt wurde, deuten nach Ansicht der Forschergruppe der Universität von Jerusalem um den Archäologen Leore Grosman auf ein Schamanengrab hin.
Während die Frage, ob es schon vor über zehntausend Jahren Schamanen gab, vorsichtig mit „wahrscheinlich ja“ beantwortet werden kann, sind andere Fragen noch offen.
Warum ähneln sich die schamanische Praktiken in verschieden Teilen der Erde so sehr? Tatsächlich ähneln sich die Arbeitsmethoden der sprituellen Handwerker in so weit voneinander entfernten Regionen wie Grönland, dem Amazonasbecken, der Mongolei oder Borneo in verblüffenden Weise.
Für diese Übereinstimmungen gibt es zwei Erklärungsmodelle. Während Diffusionisten davon ausgehen, dass der Schamanismus als religiöses Phänomen in einer einzelnen Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden sei und sich anschließend auf zahlreiche andere Kulturen ausgedehnt habe, behaupten Generalisten jeder Mensch besäße schamanische Anlagen. Der Schamanismus wird so zu einer anthropologischen Konstante.
Dass es einer Berufung bedarf, um Schamane zu sein, spricht gegen die Hypothese, dass jeder „Durchschnittsmensch“ das Schamanisieren erlernen könnte, so wie etwa beinahe jeder in der Lage ist, Lesen und Schreiben zu lernen. Wenn manche Neoschamanen von schamanistische Techniken im Sinne von erlernten Fertigkeiten sprechen, unterschlagen sie regelmäßig Phänomene wie die Berufung oder die „Schamanenkrankheit“, und würden sich in schamanischen Stammeskulturen nur lächerlich machen.
Fast überall auf der Erde gibt es Animismus, die Vorstellung, dass alles im Universum belebt oder von Geistern bewohnt sei – Pflanzen, Tiere, Naturerscheinungen, aber auch Felsen, Häuser, Geräte, Waffen. Ohne einen mehr oder minder ausgeprägter Animismus funktioniert das schamanische Denken nicht. Man hüte sich vor dem weit verbreiteten Vorurteil, nur „primitive“ Kulturen seien animistisch. Kenner japanischer Filme, Romane oder Comics („Mangas“) wissen, wie stark selbst das moderne Japan von animistischen Vorstellungen durchdrungen ist. Alltagsanimismus, der sich etwa in der viel bespöttelten Angewohnheit von Computerbenutzern oder Autofahrern, ihrer jeweiligen „Kiste“ gut zuzureden, zeigt, findet sich sogar im animismusfeindlichen „christlichen Abendland“.
Eng mit dem Schamanismus verbunden, und den meisten Kulturen zu finden, sind Ahnenkult und Geisterglaube. Der Totemismus ist nicht ganz so universell, aber immerhin gibt es ihn in allen Erdteilen. Es gibt auch fast überall auf der Erde die Vorstellung von „Anderswelten“. In den meisten Kulturen kennt man Trance induzierende Methoden und halluzinogene Drogen.
Was die Grundvoraussetzungen für Schamanismus angeht, haben die Generalisten also offensichtlich recht: Menschen aus allen Kulturen können schamanische Fähigkeiten haben.
Es lässt sich zwar nicht genau berechnen, aber in Stammesgesellschaften mit intaktem traditionellen Schamanismus empfängt etwa jedes dreißigste bis fünfundzwanzigste Stammesmitglied eine schamanische Berufung. Das bedeutet, vorausgesetzt, dass schamanische Fähigkeiten tatsächlich eine „anthropologische Konstante“ wären, dass allein in Deutschland über 2,7 Millionen Menschen leben müssten, die potenziell eine schamanische Funktion übernehmen könnten.
Die Generalisten haben aber insofern Unrecht, da das oben skizzierte „Berufsbild“ des Schamanen oder ein schamanischer Komplex in den meisten Kulturen nicht zu finden ist.
Walross-Stoßzähne, bemalt mit schamanischen Motiven Foto: Volkmar Kuhnle
Voll entwickelte schamanische Techniken und ein schamanisches Weltbild – die zusammen den schamanischen Komplex bilden – findet man nur bei relativ wenigen Kulturen, meistens bei Stammeskulturen, die teilweise oder ganz von der Jagd leben oder die Hirtennomaden sind. In diesen Fällen kann man von schamanischen Kulturen im engeren Sinne sprechen. Neben diesen schamanischen Kulturen gibt es schamanische Kulturen im weiteren Sinne, in denen einzelne Merkmale des Schamanismus fehlen – z. B. unternehmen die koreanischen Schamaninnen keine Seelenreisen.
Wie schon erwähnt, gibt es schamanische Kulturen im engeren Sinne in Sibirien und in der Mongolei. Die arktischen und subarktischen Kultur der Inuit (Eskimos) ist eindeutig schamanisch und dem sibirischen Schamanismus sehr ähnlich. Im südlichen Innerasien und in Tibet gibt es ebenfalls Schamanismus, der aber durch andere Kulturen „überformt“ ist und damit Schamanismus im weiteren Sinn ist. Auf dem indischen Subkontinent und in Ostasien finden sich abgewandelte Formen der schamanischen Praktiken, die sich in mancher Hinsicht vom nordasiatischen Muster unterscheiden. Ob das noch Schamanismus genannt werden kann, ist umstritten.
Bei den Indianern der nordamerikanischen Nordwestküste kommen Trance und Geistreise manchmal, aber nicht überall vor. Noch weiter südlich sind tiefe Trance und Seelenreisen seltener. Dafür tritt in den Präriegebieten die Praxis der „Visionssuche“ in den Vordergrund. Nicht alle nordamerikanische Ureinwohner praktizierten Schamanismus, auch wenn gemäß der ethnographischen Datenbank „Human Relations Area Files“ bei 97 % aller nordamerikanischen indigenen Kulturen Rituale zur Bewusstseinsveränderung bekannt sind.
In Zentral- und Südamerikas ist der „Drogen-Schamanismus“ besonders entwickelt. Während sibirische Schamanen allenfalls Fliegenpilze (und Wodka) als „sprituellen Treibstoff“ verwenden, sind im tropischen Amerika über 100 Pflanzen mit psychotropen oder halluzinogenen Eigenschaften im Gebrauch. Noch Eilade sah im Drogengebrauch durch Schamanen eine Degenerationserscheinung, heute wissen wir, dass es sowohl drogengebrauchende wie drogenabstinente Traditionen des Schamanismus gibt.
Einige halluzinogene Pflanzen, wie Dantura (Stechapfel), der Peyote-Kaktus, die Mescal-Bohne oder Pilze der Gattung Psylocibe werden auch im südliche Nordamerika verwendet, aber die erstaunlichsten Kenntnisse in der Anwendung halluzinogener Pflanzen als Treibstoff schamanischer Reisen haben südamerikanische Schamanen. Etwa 80% aller heute bekannten psychoaktiven Drogen stammen aus dem Arzneischatz süd- und mittelamerikanischer Vegetalistas. Die „Mehr-Komponenten-Droge“ Ayahuasca ist das bekannteste Beispiel höchst raffinierter Dschungelpharmakologie.
Die in Sibirien und Nordamerika übliche Schamanentrommel ist in Südamerika meistens durch die Rassel ersetzt. Es ist eindeutig Schamanimus, denn ein „schamanischer Komplex“ ist vorhanden, der sich aber vom sibirischen Prototyp deutlich unterscheidet.
In Vorderasien, Afrika, Ozeanien und Australien ist die Situation anders. Zwar gibt es auch hier Kulturen mit vielen schamanische Elemente jedoch keinen kompletten, wenn auch vielleicht abgewandelten, schamanische Komplex. Einige dieser Kulturen, z. B. die Aranda oder die Walbiri Zentralaustraliens, könnte man dennoch als schamanische Kulturen im weiteren Sinne bezeichnen.
Der Kulturvergleich legt eine diffusionistische Deutung nahe: je weiter eine schamanische Kultur vom nördlichen Sibirien entfernt lebt, desto deutlicher weichen Teile der schamanischen Praktiken vom „Original“ ab – wobei diese Diffusion allerdings kulturelle und sprachliche Unterschiede überwinden musste.
Auch wenn es Anhängern der romantischen Vorstellung, es gäbe einen einzig wahren, monolithischen „Schamanismus“ und daneben allenfalls „Degenerationsformen“, sicher nicht gerne hören, spiegeln sich in schamanischen Praktiken immer auch die Grundwerte und die Weltsicht einer Kultur wieder. Vielleicht sollte man besser von „Schamanismen“ als von „dem Schamanismus“ reden, denn trotz eines „harten Kerns“ an Gemeinsamkeiten ist der Schamanismus verschiedener Völker genau so vielfältig wie ihre übrige Kultur.
Einzelne schamanische Praktiken und Anschauungen gibt es in allen Teilen der Welt, aber selbst Schamanismus im weiteren Sinne ist kein universelles Phänomen. Schamanismus im engeren Sinne gibt es nur bei einigen Jäger- und Hirtennomadenvölkern Nordasiens und Amerikas.
4. Gibt es schamanische Einflüsse in unserer „abendländischen“ Kultur?
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