Warum es richtig sein kann, nicht zu vergeben
„Vergeben können” ist in unserer Kultur eine sehr angesehene Tugend, und „Vergebung” ein geradezu mythisch überhöhter Begriff. Daraus ergibt sich regelmäßig die moralischen Forderung, gefälligst vergeben zu müssen, und der Generalverdacht, dass Menschen, die nicht bereit sind, zu vergeben, zu verzeihen oder sich zu versöhnen, moralisch minderwertig seien. Wer nicht vergibt, sei gnadenlos, rücksichtslos, unfair, nachtragend und rachsüchtig.
Ob Vergebung sinnvoll ist, in dem Sinne, dass weiteres Unrecht und Leid verhindert wird, oder ob Vergeben im Gegenteil Unrecht und Leid zementiert, den „Tätern” nützt und den „Opfer” schadet, lässt sich nicht allgemein sagen.
Es kommt immer auf den Einzelfall und auf die beteiligten Menschen an. Ein Beispiel, in dem sich „Vergebung” und „Aussöhnung” positiv auswirkte, war Nelson Mandelas Vergeben gegenüber de Klerk.
Wer Unrecht erlitten hat und vergibt, ist nachsichtig und verzichtet freiwillig auf Rechte. Es kann gute Gründe geben, nicht zu vergeben. Nicht zu vergeben bedeutet noch lange nicht, einem Täter „lebenslang eins in die Fresse hauen zu wollen” und von Hass, Rachephantasien, Verachtung und Selbstgerechtigkeit getrieben zu sein. In vielen Fällen ist es schlichte Selbstbehauptung, nicht zu Vergeben, verbunden mit dem Entschluss, nicht länger Opfer sein zu wollen.
Vergebung ist nur unter Gleichberechtigten möglich. Vertragen – verwandt mit Vertrag – können sich nur Gleiche, nach Verhandlungen und gegebenenfalls Ausgleich, der „vertraglich” abgesichert wird.
Erst nachdem das rassistische System der „Apartheid” in Südafrika abgeschafft war, war überhaupt daran zu denken, dass sich die zuvor gesetzlich privilegierten „Weißen” und die unterdrückten und entrechteten „Schwarzen” vertragen können!
Mahatma Gandhi gab zu bedenken, dass eine abhängige Person nicht verzeihen könne, da sie unfrei handle. Er schrieb:
„Gewaltfreiheit ist bedeutungslos, wenn sie von einer hilflosen Kreatur ausgeht. Eine Maus wird einer Katze kaum vergeben, wenn sie es zulassen muss, von ihr in Stücke zerrissen zu werden.“
Es ist kein Zufall, dass diese Einsicht von einem Nicht-Christen, einem „Reformhindu”, ausgesprochen wurde, denn dass die „Vergebung” in unserer Kultur den Charakter einer ultimativen moralischen Forderung annehmen konnte, hängt direkt und indirekt mit dem Christentum zusammen; genauer gesagt, mit der „Kriminalgeschichte des Christentums” (Deschner), also Macht, Ausbeutung, Unterdrückung, Selbsterhöhung, kultureller Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus usw. usw. mit „religiöser” Begründung. Wobei es völlig irrelevant ist, was z. B. die jüdischen Propheten oder Jesus tatsächlich predigten und beabsichtigten. Es geht im folgenden nicht um „das Christentum” an sich, nicht um alle Christen und auch nicht darum, was in der Bibel steht, sondern darum, was Kirchenfunktionäre, Theologen und christliche Machthaber in zwei Jahrtausenden aus dem realen Christentum machten.
Nach der Ansicht der vorherrschenden christlichen Lehre geschieht das Vergeben unter Menschen „aus Gnade“, ohne dass der Andere die Vergebung verdient hätte. Das bedeutet, dass laut der christlichen Lehre auch uneinsichtigen Tätern vergeben werden muss. Eine Zumutung für die Opfer!
Gnade kann nur vom „Stärkeren” bzw. Mächtigeren oder Überlegenen gewährt werden. Nicht von ungefähr können nur Staatsoberhäupter bzw. deren Rechtsvertreter einen rechtskräftig Verurteilten die Strafe teilweise oder ganz erlassen, also ihn oder sie begnadigen. Nur indem gläubige Christen vor vornherein als „Starke”, als „im Namen Jesu” als ultimativ Mächtigem Handelnde, definiert wurden – unabhängig von ihrer realweltlichen sozialen und politischen Stellung – und indem das „jenseitige Leben” zum eigentlich wichtigen Leben erklärt wurde, konnte die „Vergebung aus Gnade” zum allgemeinen moralischen Prinzip erhoben werden.
Indirekt und auch bei Nichtchristen wirksam ist das Prinzip von „Schuld”, mit dem sich Sven hier auseinandersetzt: „Schuld – die Rückkehr ins Paradies”.
„Eine Schuld vergeben” hatte ursprünglich eine materielle Bedeutung, nämlich die von „Schulden erlassen”. Wenn ich jemandem eine Schuld erlasse oder „vergebe”, schenke ich dem Schuldner oder der Schuldnerin z. B. das Geld, das er oder sie eigentlich zahlen müssten, oder ich verzichte darauf, dass er oder sie eine geforderte Leistung erbringt.
„Vergebung” im Rahmen des „Schuld”-Komplexes ist eine heikle Sache. Wer eine Schuldfrage stellt („Wer ist daran Schuld?” anstatt z. B. „Was sind die Ursachen?” oder „Wer ist dafür verantwortlich?”) muss nicht nur mit dem Finger von sich weg sondern auch noch woanders hin zeigen: ein Schuldiger muss her. Und das bedeutet immer eines: die eigene Scham, die eigene Verletzung, die man sich beigebracht hat, die irgendwo doch im Hinterkopf nagende Erkenntnis, das, was so gern „schlechtes Gewissen” genannt wird, muss woanders hin. Wie Sven feststellte, bedeutete das: Ich muss, um unschuldig sein zu können, die Verletzung jemandem anderen beibringen. Jemandem Schuld einreden. Jemandes Gewissen ansprechen, auf dass dieser sich schuldig fühlt, die Schuld übernimmt, sich schämt. Jemanden, den ich auf diese Weise zum „Schuldigen” gemacht habe, kann ich in der Tat „Vergeben”- um mein eigenes Gewissen zu beruhigen. In diesem Fall „vergebe” ich dem Opfer meiner Schuldprojektion, nicht einem „Täter”, bzw. Verantwortlichen.
Es ist nicht nur so, dass die „Schuldzuweisung” keine Probleme löst, eine „Vergebung von Schuld” verfestigt sie womöglich noch.
Besonders übel ist das, wenn die Vergebung nicht von Opfern bzw. Leidtragenden eingefordert wird – etwa um, wie in Südafrika, einen Neuanfang möglich zu machen – sondern eine Forderung an die Opfer ist!
Wenn ich als Gläubiger Schulden erlasse, trage ich den finanziellen Schaden selbst. Auch wenn ich jemanden, der oder die mir z. B. Gewalt angetan hat, die „Schuld” vergebe, trage ich einen möglichen Schaden selbst, bzw. ich verzichte auf Schadenersatz, Schadensausgleich, Genugtuung, „tätige Reue” und, denke ich „streng christlich”, auf Reue an sich und sogar auf Tateinsicht.
Streng moralisch sollte also ein Opfer von Gewalt nochmals durch Vergebung Schaden tragen. Dadurch wird es noch einmal zum Opfer gemacht.
Die Legende vom „entlastenden Vergeben” und ihre Folgen
Ideengeschichtlich stammt die Vorstellung, dass „dem Täter vergeben” für das Opfer Entlastung bedeutet, der alten Bußliturgie. Diese Bußliturgie floss in die seelsorgerische Praxis ein. Als mancherlei Therapeuten und „Therapeuten” zunehmend die Funktion der kirchlichen Seelsorger einnahm, fand diese Eingang in mancherlei psychologische und „psychologische” Modelle, Hypothesen und Phantasien, und vor allem in die therapeutische Praxis.
Besonders übel wirkt sich das bei der Therapie von in ihrer Kindheit misshandelten und „missbrauchten” Menschen aus. Selbst ausgewiesene Fachleute halten an der Vorstellung fest, das Vergebung, Verzeihung und Versöhnung gegenüber dem Täter oder der Täterin zur Heilung durch Gewalt in ihrer Kindheit traumatisierter Menschen entscheidend beitrüge.
Viele Psychotherapeuten und leider sogar einige Traumatherapierichtungen sehen es als krönenden Abschluss einer gelungenen Therapie an, wenn der oder die Betroffene dem Täter oder der Täterin vergibt. Oft ist dann von „Frieden schließen“ oder „vertragen” die Rede – was, siehe oben, nur unter Gleichen und bei Ausgleich der Interessen überhaupt möglich ist.
Aus der Sicht eines Erwachsenen, der als Kind misshandelt wurde, bedeutet Vergebung, nachdem er in der Therapie über das ihm zugefügte Leid zu reden begonnen hat, wieder darüber schweigen zu sollen.
Da wir in einer von Schulddenken, Schulzuweisungen und Schuldabwehr geprägten Kultur leben, kann eine Vergebung erwachsenen Betroffenen zunächst wirklich eine gewisse Erleichterung verschaffen. Denn sie müssen sich nun den Tätern und leider auch gegenüber den meisten ihrer Mitmenschen gegenüber nicht mehr „schuldig” dafür fühlen, dass sie „nicht verzeihen können” (also gnadenlos, rachsüchtig, nachtragend, unfair usw. zu seien).
Susan Forward setzt in ihrem Buch „Vergiftete Kindheit” unter anderem auch mit dieser Thematik auseinander. Gerade vorschnelles Vergeben könne demnach dazu führen, dass sich Opfer nicht mit Traumata auseinandersetzen oder sogar in schädlichen Beziehungen verharren. Forward meint, beim Vergeben gäbe es zwei Aspekte, nämlich den, Abstand von Rache zu nehmen – dieser Aspekt ist vernünftig und wichtig -, und den, Täter von ihrer Verantwortung zu entbinden. Und sie fragt, warum man überhaupt jemandem vergeben sollte, der nicht um Verzeihung gebeten hat und der auch keine Verantwortung für seine Handlungen übernimmt.
Um es ganz klar zu sagen: „Nicht mehr darüber reden” und „Täter von ihrer Verantwortung entbinden”, was ja mit Vergebung im landläufigen Sinne verbunden ist, bedeutet Retraumatisierung!
Ganz besonders schlimm ist diese Retraumatisierung, wenn die Täter uneinsichtig sind und keine Reue zeigen. Das Opfer, das einem uneinsichtigen Täter oder einer Täterin vergibt, schadet sich selbst, denn nun muss es „alle Schuld auf sich nehmen”. Nun zeigt die Erfahrung, dass Kindesmisshandler – egal, ob sie sexuelle, materielle oder ideologische Tatmotive hatten – oft keine Tateinsicht zeigen, von Reue, Ausgleich, Wiedergutmachung gar nicht zu reden. Dann ist Vergebung kein Schritt zur Heilung – im Gegenteil!
Ein anderes Beispiel: Überlebende der Verfolgung und Vernichtung durch Nazideutschland. „Vergeben”, ohne Bestrafung der Täter, ohne tätige Reue der Mitverantwortlichen (das war die Mehrheit der damaligen Deutschen) und ohne dass die Strukturen, die diese in der Menschheitsgeschichte einmaligen Verbrechen erst möglich gemacht hatten, gründlich bereinigt wurden, kann es nicht geben. Aber an erster Stelle muss die Würde und Ehre der Ermordeten und vor allem die der Überlebenden wiederhergestellt werden – was bei „Zigeunern”, Homosexuellen, „Asozialen”, aber auch Deserteuren sehr lange, zu lange, gedauert hat.
In die Entscheidung, ob Überlebende der Mordfabriken, der „Sondereinsatzkommandos”, des Vernichtungskrieges und der Unrechtsjustiz vergeben wollen, darf ihnen niemand dreinreden. Schon gar nicht mit „moralischen” Argumenten.
Vergebung, Verzeihung und Versöhnung machen unsere Welt nicht automatisch besser. Oft stehen sie einer besseren Welt sogar im Wege.
Eine weitere fragwürdige christliche Grundüberzeugung seit der Spätantike ist die „Erbsünde”, die düstere Annahme, dass jeder Mensch voller Sünden auf die Welt kommt. Hinzu kommen die zahlreichen kleinen und großen Sünden, die jeder Mensch zwangsläufig im Laufe seine Lebens begeht. Unter gewissen Umständen können diese Sünden von Gott vergeben werden – welche Umstände das sind, definieren die Kirchen und ihre „Seelenhirten” praktischerweise selbst. Daher ist die Legende von der heilsamen Vergebung und die moralische Forderung, bedingungslose Vergebung aus „Gnade” üben zu müssen, auch so wichtig, denn Macht und Einfluss der Kirchen und der sich auf religiöse Autorität berufenden Herrscher hingen und hängen entscheidend davon ab. Vergebung – vor allem gegenüber gewalttätigen Eltern, „gefallenen” Priestern, übergriffigen Obrigkeitsvertretern und tyrannischen Herrschern – hält die „gottgewollte” Weltordnung und damit die bestehenden Machtverhältnisse aufrecht.
Wer aus moralischen Druck vergibt, bleibt in der „Opferrolle” – im Sinne eines passiven, ängstlichen Verhaltens. Wer passiv und ängstlich ist, ist ein bequemer Untertan.
Die moralische Forderung, vergeben zu müssen, findet sich in den meisten Religionen und in fast allen „esoterischen” Weltanschauungen.
Gerade in „Eso-Kreisen” ist es unheimlich wichtig, so ziemlich jedes Unrecht am besten sofort zu vergeben. Dahinter steckt, abgesehen davon, dass die oben skizzierten kirchlichen Machtstrukturen auch im „kleinen Maßstab” funktionieren, eine geradezu gnadenlose Harmoniesucht, bzw. der Versuch, sich die Welt schön zu reden: Immer schön positiv denken, alles hat seinen tieferen Sinn, auch Unrecht, alles gleicht sich karmisch usw. aus, und man darf sich außerdem herrlich moralisch überlegen fühlen, wenn man unerleuchtete Zeitgenossen zur Vergebung auffordert!
Es stimmt auch nicht, dass Vergebung Wut, Hass und Rachegefühle vermindert. Oft werden sie nur geleugnet, manchmal unterdrückt und sehr oft verdrängt, d. h. sie sind im bewussten Denken nicht mehr präsent. Aber da sind sie immer noch.
Besonders stark ist die Verdrängung bei kindlichen Gewaltopfer, die zur Vergebung und damit zum Schweigen gezwungen werden. Die Gefühle des misshandelten Kindes, vor allem auch die Wut, der Hass und die Rache können so nicht verarbeitet werden. Manchmal spalten sie sich ab, was dissoziative Persönlichkeitsstörungen zu Folge hat.
Bewusst laienhaft ausgedrückt: Viele Opfer „speichern” die verdrängten Gefühle so lange in sich, bis sie dann als Erwachsene selbst „mächtig” sind und imstande sind, selbst Kindern Gewalt zuzufügen. Das steckt, neben „Familientraditionen”, hinter der Beobachtung, dass Menschen, die als Kind misshandelt wurden, auffällig oft selbst Kinder misshandeln.
In diesen Fällen werden Wut, Hass und Rachsucht durch Vergebung nicht vermindert, sondern nur auf die nächste Generation verschoben. So werden durch Vergebung die Gewalt und die Traumatisierungen in jeder Generation reproduziert.
Natürlich ist das nicht der einzige Mechanismus, durch den Gewalt von Generation zu Generation weitergegeben wird. Oft erfolgt das ganz bewusst, manchmal sogar „gut gemeint” und ideologisch unterfüttert. Das drückt sich dann in Sprüchen wie: „Wer befehlen will, muss erst mal lernen, zu gehorchen!”, „Die Schläge haben uns doch auch nicht geschadet” oder „Kinder mit ‚m Willen kriegen was hinter die Brillen!” aus. Egal, ob absichtlich oder unterschwellig: Erst ein dichtes Netz aus Vertuschung, hierarchischen Strukturen und Empathielosigkeit, gerade gegenüber Kindern, machen Gewaltvererbung möglich – und selbstverständlich wirken religiöse Dogmen wie der von der segenbringenden Vergebung dabei mit.
Manchmal hat Verdrängung von Wut, Hass und Rachegelüsten auch andere, spektakuläre Folgen: exzessive, oft brutale, Rache, die scheinbar „aus dem Nichts” kommt. Solange ein Opfer sich unmittelbar am Täter rächt, oder an Menschen und Institutionen, die den Täter unterstützten oder schützten, ist der Zusammenhang verhältnismäßig klar, selbst wenn das zum Täter gewordene Opfer zuvor scheinbar „verziehen” hatte und „nicht über alte Geschichten” redete. Aber oft weiß ein Opfer überhaupt nicht, wer sein Peiniger war, manchmal ist ihm gar nicht bewusst, dass es Opfer ist, und es kommt auch vor, dass Opfer die Täter paradoxerweise lieben, oder sie und ihre Motive gutheißen oder noch so viel Angst haben, dass sie gar nicht auf die Idee kommen, sich an ihnen rächen zu wollen.
Solche Menschen lassen ihre verdrängte Wut, ihren Hass und ihre Rachsucht an mehr oder weniger willkürlich als „bösartig” oder „unterdrückerisch” wahrgenommenen Menschen aus. Zum Beispiel als Amokläufer an völlig Unbeteiligten.
Vergeben heißt nicht Vergessen!
Ein klassisches Beispiel, in dem „Vergeben” – oder, was in diesem Fall vielleicht angebrachter ist, „sich vertragen” – sinnvoll war, ist das oben von mir erwähnte Beispiel Südafrika. Dass sich ehemalige Feinde vertrugen, war in der Tat die einzige Chance, einen blutigen Bürgerkrieg zu verhindern. Ein anderes Beispiel sind die überwundenen „Erbfeindschaften” in Europa – eines, an dem sich auch gut zeigen lässt, dass „Versöhnung” nicht aus dem Nichts, ohne Ausgleich, Kompromisse, Einsicht, Entschädigungen usw. kurz: Veränderungen, zu haben ist. Einige „Erbfeindschaften” und „offene Rechnungen” wirken nämlich fort, wie es sich z. B. in der ungarischen Politik der letzten Jahre zeigt, in der auf einmal das „Diktat von Trianon” von anno 1918 und längst als bewältigt geltende Minderheitenprobleme von sonstwannhundertirgendwas wieder schrecklich wirkmächtig und aktuell sind. Sich zu vertragen kann ein mühsamer Prozess sein, der niemals wirklich abgeschlossen ist!
Beide Beispiele zeigen, dass beim Vergeben und sich vertragen nicht vergessen werden soll. „Nicht mehr über alte Geschichten reden”, die Vergangenheit zum Tabu zu erklären, bedeutet für den Einzelmenschen Verdrängung und oft Retraumatisierung – bei Staaten und Nationen die Wiederkehr alter, gefährlicher Muster und die Wiederholung alter Fehler.
Das Beispiel Opfer des Nazi-Regimes zeigt überdeutlich, dass „Vergeben” nicht voraussetzungslos sein kann, und auch, dass „Vergeben” nicht „Vergessen” heißt, auch nicht in Form eines „Schlussstrichs”.
Aus unserer Sicht – moderner Ásatrú, Nornirs Ætt – kann, wenn man von „Schuld” und hin zu „Urd” im Sinne „Geschehenes/Manifestes” kommt, und davon auch nicht mehr weg geht; weg von der „Sühne” und hin zur „Konsequenz”, aus dem Prinzip „Vergebung” durchaus etwas werden.
Allerdings ist ist das freilich sauschwer, sozusagen eine ethische Heidenarbeit, weil es in unserem Kulturkreis internalisierte, d. H. verinnerlichte und gar nicht mehr bewusst wahrgenommenen, Normen gibt, denen man sich sehr sehr schwer entziehen kann bzw. gegenüber denen man sich sehr schwer souverän stellen kann. Diese internalisierten Normen sind auch der Grund, wieso „moralische” Appelle, doch gefälligst zu Vergeben, und zwar ohne Vorbedingungen, auch bei Menschen, die nichts mit dem Christentum am Hut haben, funktionieren.
Martin Marheinecke, Mai 2014
Ein phantastischer Artikel!
„Es stimmt auch nicht, dass Vergebung Wut, Hass und Rachegefühle vermindert. Oft werden sie nur geleugnet, manchmal unterdrückt und sehr oft verdrängt, d. h. sie sind im bewussten Denken nicht mehr präsent. Aber da sind sie immer noch.“
Richtig, und es kommt noch schlimmer! Oftmals tragen dann die Opfer auch noch als traurige Krönung am Ende Schuldgefühle mit sich herum, nämlich darüber, dass sie „nicht in der Lage sind, zu vergeben“ – was alles nur noch schlimmer macht und dem Opfer wirklich nicht angemessen ist, niemand hat dies verdient!
Jeder hat das Recht darauf, nicht zu vergeben, und zwar ohne, dass ihm das von irgendeiner Instanz angekreidet wird. Und nein, wir müssen uns nicht „alle liebhaben“, manches vergisst und vergibt man nie. Punkt! Es wäre für mich unerträglich zu vergeben und zu allem Überfluss dann auch noch mit den betreffenden Personen Kontakt haben zu müssen, das würde mich am Ende krank machen. Ich finde es gesünder und auch richtig heilend um meine Entscheidungsfreiheit zu wissen, zu sagen: „Nein, mit Dir nie wieder!“ und mir jeglichen weiteren Umgang zu verbitten. Alles andere ist nur unnatürlich, schafft schwerste Selbstzweifel und macht jegliche innere Stärke zunichte.
Danke für diesen sehr guten Artikel.
Klasse Artikel, hat einige Denkanstöße geliefert, danke! Da hab ich sicher auch noch ne Weile was zum draufrumdenken, wollte nur schon mal ein bisschen loswerden, was mir direkt dazu einfällt:
„Vergebung“ gehört wohl zu den vielen Worten, die für die einzelnen mit einer ganzen Menge unterschiedlicher Bedeutungen aufgeladen ist (sehr berühmt auch: „Freiheit“ oder „Liebe“). Und es liegt schon an der Definition, ob „Vergebung“ in einer Situation angebracht ist oder nicht. Wenn gemeint ist, dass ich zwar immer noch ablehne, was mein Gegenüber gemacht hat, aber ihm nicht mehr persönlich böse bin, weil es ja nur aufgrund seiner schweren Kindheit, der „Umstände“ etc. so gehandelt hat, dann kann es für mich eventuell durchaus sinnvoll sein zu vergeben.
Oft habe ich aber den Eindruck, dass mit Vergebung gemeint ist, nachträglich gutzuheißen, was der andere gemacht hat. So wie (bewusst konstruiert und banal:) „Wenn du damals nicht mein Radio geklaut hättest, hätte ich mir nie das neue gekauft, was einen so viel besseren Sound hat und mit dem ich jetzt so glücklich bin.“ Und diesen Twist hinzukriegen ist echt für Fortgeschrittene… Das ist was anderes als zu sagen „Alles, was in meinem Leben bisher passiert ist, hat seinen Platz, ich kann aus den schmerzhaften wie den glücklichen Ereignissen lernen, und jetzt mach ich das Beste draus.“ oder so ähnlich. Selbst wenn ich sage „Ich bin, wer ich bin, (unter anderem) aufgrund dessen, was ich erlebt habe, und ich mag mich so, wie ich bin“ (rein theoretisch könnte ich das ja sagen… naja.) muss ich dafür doch nicht den größten Mist, den ich erlebt habe, glorifizieren. Wichtig für meine Identität ist das, was ich aus dem, was mir begegnet, mache. Nicht die Ereignisse an sich.
Eng mit diesem hier verknüpft ist das Thema „Bewerten“. Sollen wir ja nicht tun. Naja. Ist oft nicht sinnvoll, das stimmt schon. Aber manchmal doch, behaupte ich einfach mal. Das wär aber noch ne Extra-Diskussion.
Jedenfalls, auch wenn mein erster Definitionsversuch gilt, kann Vergebung mMn nur Ergebnis eines Heilungsprozesses sein, nicht die Voraussetzung dafür. Wie du schriebst: „Es stimmt auch nicht, dass Vergebung Wut, Hass und Rachegefühle vermindert.“ Ich kann umgekehrt überhaupt erst vergeben, wenn ich diese Gefühle nicht mehr (so stark) spüre. Es kann sicher ein sinnvolles Therapieziel sein, ständige Rachefantasien auf ein erträgliches Maß runterzuschrauben. Aber hinter der Wut auf jemanden grundsätzlich ein therapiebedürftiges Problem zu sehen oder gar die Wut selbst mit dem Problem zu verwechseln, ist natürlich Mist.
Noch ein paar Gedankenschnipsel:
Vergeben kann sich nur auf die Vergangenheit beziehen, ich kann nicht Taten vergeben, die erst in der Zukunft begangen werden. Wie soll einem Menschen vergeben werden, der nichts an seinem Verhalten ändert oder zumindest wie auch immer von weiteren Taten abgehalten wird ? Es heißt ja „Zum Streiten gehören immer (mindestens) zwei“ – das gilt aber doch auch für das Vertragen. Einseitig wäre das eine Kapitulation.
Du sagst, zum Vergeben sei gleiche Augenhöhe nötig. Von „unten“ nach „oben“ ist es nicht möglich, umgekehrt denke ich schon. Und darauf laufen mMn teilweise sowohl christliche als auch Eso-Ansichten hinaus: Wer vergibt, zeigt Größe, ist der Person, der vergeben wird, moralisch überlegen – mag ja teilweise so sein, bloß übers Vergeben wachsen zu wollen und überlegen zu sein, wo man vorher unterlegen war scheint mir doch ungesund…
Ansonsten könnte ich hier noch ne Menge aus deinem Text zitieren und „jo, stimmt“ oder „so hab ich mir das noch nie angeguckt, muss mal drüber nachdenken…“ drunter schreiben, aber mein Kommentar ist ja auch so lang genug…
Hoffe, hier schreiben noch mehr Leute was dazu, ist doch ein verdammt spannendes Thema…
Gut gemacht. Eine ganz ordentliche Schau. Ein weiterer Aspekt für mich in dieser „“Malaise der Vergeblichkeit““ ist der, dass es für scheinbar Unbeteiligte übelst auszuhalten ist, dass jemand Schmerz empfindet. den er durch jemand anderen erlitten hat. Oder den Schmerz, der da ist, wenn jemand aus dem nächsten Umfeld gestorben ist. Das ist auch eine fürchterliche Beleidigung.
Das Problem des Vergebens ist doch, dass es in Therapien oft forciert wird, und der Patient, der oft traumatisiert ist ja schon wieder nicht gesehen, gehört, geachtet wird, wie damals.
DAS kann nun wirklich nicht das Ziel einer guten Therapie sein.
Vergeben um jeden Preis?
Nein.
Ein gefordertes Vergeben hat sowieso keinen Wert, und meistens ist es gesellschaftlich gefordert, zu vergeben, meistens den Eltern, auch, wenn diese einen misshandelt haben und auch weiterhin nicht wirklich ehrlich zu ihren Kindern sind.
Ein Vergeben in diesem Kontext bedeutet doch: Vergiss die Taten bitte.
Das kann man auf Seite von Eltern zwar verstehen, für den Patienten, dem es in der Regel deutlich schlechter geht, als den ELtern, ist dies aber oft negativ.
Nun wird die Wut, die das Kind schon damals unterdrücken musste (um zB nicht wieder gehauen zu werden), wieder unterdrückt, schon wieder wird dem Kind von damals suggeriert, dass seine Gefühle nicht richtig wären, und dass es diese Gefühle schnell vergessen muss.
Unter diesem Druck kann keine Heilung der Seele geschehen.
Bin über einen Artikel gestolpert, der mir auch in diesen Zusammenhang zu passen scheint. Da geht es darum, wieso gewaltfreie Kommunikation nur für bestimmte Fälle taugt und in anderen nach hinten losgeht: (auf englisch) http://realsocialskills.org/post/91609471897/nonviolent-communication-can-hurt-people
Wobei ich den Eindruck habe, dass dieses „Hey, du kommunizierst gerade aber gar nicht gewaltfrei!“, was dann leicht mal gegen die in einer Situation eh schon Unterlegenen gerichtet ist, eher bei Leuten auftaucht, die sich seit ein paar Monaten für die Methode begeistern und die jetzt dauernd angewendet sehen wollen. Ich habe mich selber nicht so ausführlich damit auseinandergesetzt, habe aber noch die Hinweise von GfK-Profis im Ohr, dass es eben nicht darum gehen soll, sich möglichst druckreif auszudrücken und schon gar nicht darum, das von anderen einzufordern.
Und was den Punkt angeht „Das funktioniert ja nur, wenn alle sich grundsätzlich wohlgesonnen sind, nicht wenn ein Mensch einem anderen wirklich schaden will“ – Natürlich ist es völlig daneben, vom Opfer Verständnis für die angreifende Person zu fordern. Wie ich das verstanden habe, ist die GfK aber eine Methode, mit der geguckt werden kann, wieso ein Mensch überhaupt einem anderen schaden will – welche Bedürfnisse dahinterstecken und wie sie befriedigt werden können, ohne wen zu verletzen. Das kann aber sicher nicht das Opfer leisten, da hab ich aber auch den Eindruck, dass Leute, die tiefer in dem Thema drin stecken, gar nicht auf diese Idee kämen.
Aber wie gesagt häng ich da selbst nicht so drin, und auf jeden Fall halte ich es für sinnvoll zu sagen, „Vorsicht, auch dieses Werkzeug kann zur Waffe werden oder dir weh tun, wenn du es falsch anfasst.“ So in etwa. Deshalb der Link.
Ich bin immer froh, wenn ich einen Artikel lese, der das Vergeben hinterfragt. Ich bin ein Opfer von Kindesmisshandlung und ich habe sehr schlechte Erfahrungen mit dem Verzeihen. Auch ich glaubte daran, dass Vergebung inneren Frieden, Heilung und weiss Gott noch was alles Tolles bringt. Aber meine Eltern wurden immer unverschämter, je mehr ich ihnen verzieh. Meine stete Vergebungsbereitschaft erweckte in meinen Eltern den Eindruck, dass sie sich fast alles mit mir erlauben können. Warum sollen sie mich denn mit Respekt behandeln? Das hatten sie noch nie getan. Das hatten sie nie gelernt. Und es ist ihnen völlig fremd. Ich verzeihe ja doch immer alles… Das ist ein weiterer Aspekt, unter der man die Vergebung auch mal anschauen sollte. Vergebung kann Wiederholungstäter provozieren. Schliesslich hatte der Täter irgend einen Gewinn von seinem Tun. Und dank der Vergebung trägt er nun auch nicht die geringsten negativen Konsequenzen davon. Dank der Vergebung hatte der Täter eigentlich einen Erfolg auf der ganzen Linie. Das sind starke Anreize, die Tat zu wiederholen. Im ungünstigsten Falle wirkt Vergebung wie eine Belohnung.