Ritualmord – bequeme „Erklärung” mit Gruselfaktor
Vor einigen Tagen ging ein angeblich von Wiccas verübter angeblicher Ritualmord durch die US-Medien. Ausläufer erreichten – es ist schließlich Sommer(loch)zeit – auch den deutschsprachigen Raum.
Am 31. Juli 2015 wurde die Polizei von Pensacola im US-Bundesstaat Florida in ein kleines Einfamilienhaus im Westteil der Stadt gerufen. Dort lagen in einem Zimmer drei Menschen, die brutal mit Hammer und Messer ermordet worden waren. Nun war der 31. Juli der Tag des „blauen Mondes“, des zweiten Vollmondes innerhalb eine Monats. Ein Motiv für die grausame Tat konnten die Ermittler auf den ersten Blick nicht erkennen. Anzeichen eines Einbruchs gab es nicht. Gegenstände wurden nicht gestohlen, und auch eine große Menge von Dollar-Noten lag noch immer unberührt im Safe. Die Polizei ging außerdem davon aus, dass die Bewohner den oder die Täter gekannt und ins Haus gelassen haben müssen.
Einige Tage später, am Mittwoch, dem 5. August, war sich die Polizei ziemlich sicher: Auf einer Pressekonferenz erklärte der Sheriff von Pensacola, David Morgan, die Tat hätte einen religiösen oder sprituellen Hintergrund. Es wäre ein Ritualmord, darauf deuten das Datum, die Art des Mordes und eine „person of interest“, die die Polizei verhört, aber nicht als Verdächtigen verhaftet habe hin, sie würde diese Religion praktizieren. Auf Nachfrage sagte der Sheriff, es wäre „witchcraft”.
Sheriff: Triple murders center around ‚witchcraft‘ (Pensacola News Journal)
Später konkretisierte eine Pressesprecherin der Polizei von Pensacola, Andrew Hobbes, gegenüber NBC News, es wäre ein „Wicca-Ritual” gewesen.
Diese Verdächtigung erinnert an den abgedroschenen Scherz über Archäologen, die alle rätselhaften Funde einfach als „Kultgegenstände” einordnen würden.
Entsprechend entsetzt waren sowohl Religionswissenschaftler wie auch Wiccas über die Vorverurteilung der Polizei. Wenn sie nur ein wenig recherchiert hätten, hätten die Ermittler wissen müssen, dass dieser brutale Mord nichts mit Wicca zu tun haben kann.
Auch Selena Fox, Priesterin des Circle Sanctuary, der größten Wicca-Kirche der USA, betonte, dass Ritualmorde nicht Teil ihrer Religion seien.
Wicca experts denounce Florida sheriff for linking triple murder to ‚witchcraft‘ (The Guardian)
Die Ermittler in Pensacola wiesen den Vorwurf einer Vorverurteilung zurück und bleiben bei ihren schweren Vorwürfen.
Es passt so Einiges nicht zur „Ritualmord”-Hypothese, egal, ob nun Wicca oder nicht. Während die Kehlschnitte mit dem Messer noch an Menschenopfer erinnern, wirkt das Tatwerkzeug Zimmermannshammer eher weniger „rituell”. Einem der Ermordeten, Richard Smith, schossen der oder die Täter zusätzlich mit einer Pistole ins rechte Ohr. Vor allem: Die drei Opfer wurden nicht in der „Blue-Moon-Night” am Freitag ermordet, sondern nach Einschätzung des Gerichtsmediziners bereits drei Tage zuvor.
Anders ausgedrückt: die Ermittler in Pensacola blieben bei einer Hypothese, die durch Fakten nicht gedeckt ist – aber gängigen Vorurteilen gegenüber einer Außenseitergruppe voll entspricht.
Nur eine Sommerloch-Kuriosität aus den USA?
Deutschsprachige Medien, die über den Fall berichteten, erweckten zum Teil den Eindruck, es handele sich um einen dieser seltsamen Vorfälle aus den Südstaaten der USA, die „bei uns” undenkbar wären. Nebst einer Riesenportion Vorurteilen und Rechercheverweigerung, was nun wirklich nicht südstaaten-spezifisch ist, gibt es hinter diesem Fall Strukturen, die ihn weit über die USA hinaus interessant machen.
Rassistische Strukturen in der Polizei zum Beispiel. Auf den ersten Blick scheint es zwischen dem Umstand, dass Schwarze mit viel größerer Wahrscheinlichkeit einer Tat verdächtigt werden als Weiße („Racial Profiling”, in den USA verboten, aber trotzdem sehr weit verbreitet), und dass Schwarze Tatverdächtige mit sehr viel größerer Wahrscheinlichkeit als Weiße einfach von Weißen Polizisten erschossen werden, und dem „Ritualmord”-Verdacht wenig Gemeinsamkeiten zu geben.
Beim näheren Hinsehen schon. Eine der am besten durch Forschung erhärteten Erkenntnisse der Soziologie über „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit” ist, dass für Hasser ein Hassobjekt selten allein kommt: Rassisten sind mit hoher Wahrscheinlichkeit auch z. B. Antisemiten, Schwulenhasser, Moslemfresser, Antifeministen und Einwandererfeinde.
Es ist beleibe kein US-Phänomen. Die strukturelle Ähnlichkeit dazu, dass Ermittler bei rätselhaften Morden im „islamischen Milieu” sehr oft sehr schnell mit dem Verdacht „Ehrenmord” bei der Hand sind, ist nicht zu übersehen. „Deren Kultur ist eben so” und fertig! Während ein gleich gelagerter unklarer Fall in einer christlichen „einheimischen” Familie ein „rätselhaftes Familiendrama” ist.
Das Schema ist einfach: Bei nicht auf Anhieb verständlichen Taten führen Vorurteile und Klischees über eine verhasste, ungeliebte oder auch nur unverstandene Gruppe zu einer in jeder Hinsicht bequemen Tathypothese. Zu einer Hypothese, die die Illusion bestärkt, dass das „Böse” stets am Rand der Gesellschaft oder unter „Extremisten” und „Fanatikern” zu finden sei. Einer, in der beunruhigende Tatbestände einfach als „irrational” fortgewischt werden. Und selbstverständlich einer, die Privilegien nicht in Frage stellt. Etwa der, als Christ deuten zu „dürfen”, was in „Kulten” so abläuft und wie es moralisch zu bewerten ist. (Oder als Weißer entscheiden zu „dürfen”, ob Schwarze diskrimiert werden: „Wir sind doch alle gleichberechtigte Staatsbüger, was haben diese N… äh, schwarzen Mitbürger denn nur?”)
Auch die Hypothese, dass die NSU-Terroristen „kultische Motive” für ihre Morde gehabt hätten, beruht auf diesem Schema. Ist doch beruhigend: „Aha, Neonazi-Terroristen sind einfach Verrückte, die glauben, mit ihren Morden germanischen Göttern zu dienen!” Bedauerndes Achselzucken, „Spinner gibts immer”, Fragen nach politischen Hintergründen und auch z. B. die nach der Protektion durch den Verfassungsschutz erübrigen sich.
Martin Marheinecke, 10.08.2015