„Mythos“ – Annäherung an einen Begriff

20. Januar 2011 | Von | Kategorie: Kultur & Weltbild

„Mythos“ kommt aus dem Altgriechischen, und bedeutet schlicht: „Erzählung“.
Für Platon ist ein Mythos das Werk eines Dichters, das immer Erfundenes, aber auch Wahres enthält. Heute würden wir sagen: ein Gleichnis, eine Metapher, eine Parabel oder auch ein Gedankenexperiment.

Johann Christoph Gottsched übersetzte 1730 Mythos mit „Fabel“. Aus der Alltagsbedeutung von „Fabel“ ergab sich dann auch die moderne alltagssprachliche Bedeutung von „Mythos“: etwas, was behauptet wird, aber nicht wahr ist.
(„Dass hohe Vitamin C-Dosen vor Erkältung schützen, ist ein Mythos.“ Anderes Beispiel: Vom Mythos des „Arischen Volksstammes“.)
Seit der Aufklärung gilt der Mythos als Vorstufe zum begrifflichen Denken. Eine Nebenwirkung dieser Sichtweise: Mythen gelten als überholt, abergläubisch, rückständig. Nur eine abstrakte Betrachtungsweise gilt als wissenschaftlich, je abstrakter, desto besser. Im Idealfall lässt sich alles als eine Formel ausdrücken. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass es ausgerechnet die hochabstrakte theoretische Physik war, die in Form des Gedankenexperimentes und der Metapher (bekanntestes Beispiel „Urknall“) dem Mythos im platonischen Sinne wieder Bedeutung gab.
Dennoch ist es fahrlässig, Mythos und Wissenschaft sozusagen nach Belieben zu mischen. Der Mythos schafft und vermittelt Wissen durch Erzählung im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erklärung, die immer vorläufig und unvollständig ist
Noch gefährlicher ist es, wie es zum Beispiel die die Bibel wörtlich nehmenden Fundamentalisten tun, Mythen und Tatsachenberichte zu verwechseln.
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno behandelten in ihrer Aufsatzsammlung „Dialektik der Aufklärung“ (1944) das „Scheitern der Aufklärung“: Mit dem Versuch, die Natur zu beherrschen, wird ihrer Auffassung nach der einst mythische Zugang zur Welt seit der Aufklärung rational gemacht, als „Herrschaft“ aber schlage Aufklärung selbst in einen Mythos zurück, in den Mythos des „Positivismus“, einer Affirmation des Bestehenden.
Alles in allem hat im „gesellschaftlichen Mainstream“ mythisches Denken – egal wie weit verbreitet es ist – keinen guten Ruf.

Viele spirituell denkende Menschen nehmen Mythen jedoch ernst und halten sie in Ehren. Das gilt ganz besonders für Heiden – das neue Heidentum lebt geradezu von uralten und ganz neuen Mythen.
Für alte und neue Mythen gilt, dass sie grundliegende menschliche Erlebnisweisen in Erzählerischer, dramatischer und symbolischer Form ausdrücken.
Der Psychoanalytiker C. G. Jung konnte zeigen, dass die gleichen Bilder und Motive in den Mythen aller von ihm untersuchten Völker und Kulturen immer wieder auftauchen – die Archetypen. Daraus entwickelte Jung die Hypothese, dass es einen seelischen Urgrund gäbe, der allen Menschen gemeinsam wäre: das „kollektive Unbewusste“.
(Es soll nicht verschwiegen werden, dass die meisten Psychologen und die meisten Sozialwissenschaftler das „kollektive Unbewusste“ für einen Mythos in moderner alltagssprachlicher Bedeutung halten.)
Jungs Ansatz brachte es mit sich, dass die pychologisierende Deutung von Mythen geradezu selbstverständlich wurde.
So selbstverständlich, dass Heiden, die die alten Geschichten von Göttern und Geistern inhaltlich ernst nehmen, sogar von „esoterischer“ Seite Ablehnung erfahren. Schließlich „weiß doch jeder“, dass Mythen von Göttern nur psychische Konstellationen in Form einer Geschichte ausdrücken.

Zurück zum Begriff: Was ist also ein Mythos? Meine bevorzugte Definition ist:
Ein Mythos ist der Versuch, zu erzählen, was sich nicht sagen lässt.

Thorshammer

Ein Mythos ist zum Beispiel Thors Hammer, Mjölnir.
Ich werde ab und an gefragt, ob ich an den Mythos von Thor und seinem Hammer glaube. Eine knifflige Frage, bei der jede mögliche Antwort allzuleicht missverständlich ist.
Ein typisches Missverständnis ergibt sich – siehe oben – aus der Auffassung, dass der Mythos nur die naive Vorstufe zum begrifflichen Denken ist. Mythisches Denken als vorwissenschaftliches Denken: Damals wussten es die ollen Germanen eben nicht besser und stellten sich beim Gewitter einen rothaarigen Mann auf einen von Böcken gezogenen Wagen vor, der einen mächtigen Hammer schleudert. Aber heute wissen wir es besser: der Donner, der einmal Thors Hammer zugerechnet wurde, kann besser durch elektrische Ladungen in den Wolken erklärt werden! Mjönir ist überflüssig, die ganze Geschichte von Thor nichts als ein Märchen! (Wobei nebenbei auch das Märchen, als eine Form des Mythos, unterschätzt wird.)

Es ist meiner Ansicht nach tatsächlich dieselbe Verwechslung, die auch den Fundamentalisten unterläuft, die glatt glauben, die Erde sei nur einige Jahrtausende alt und von allen Tierarten hätte ein Paar in die Arche Noah gepasst, weil das ja so in der Bibel stünde: Die Verwechslung von Erzählung und Erklärung, zwischen Gleichnis und (vor-)wissenschaftlicher Theorie. Es stimmt, denke ich, also nicht, dass die Erkenntnisse über statische Elektrizität die Donnergötter in dem Sinne abgelöst hätten, wie das heliozentrische Weltbild eines Galileis oder Keplers das als unzutreffend erkannte geozentrische Weltbild eines Ptolemäus ablöste.
In der germanischen Mythologie gibt es den Weltenbaum Yggdrasil, der die neun Welten miteinander verbindet. Kein alter Germane wird dabei an einen „realweltlichen“, normalen, nur riesengroßen Baum, gedacht haben. Ebenso wenig, wie noch heute sibirische Schamanen, die über den Himmel, Erde und Unterwelt verbindenden Weltenbaum reisen, dabei real-weltlich an einem gigantischen Baum herumklettern – oder sich bei ihren Reisen überhaupt nennenswert vom Fleck bewegen. Genauso wenig, wie ein normaler Christ sich „Christi Himmelfahrt“ als einen fahrstuhlähnlichen Vorgang im dreidimensionalen Raum vorstellt. (Von besonders vernagelten Fundis vielleicht abgesehen … auf diesem Gebiet halte ich inzwischen so ziemlich alles für möglich!)
Wenn ein katholischer Gynäkologe an die jungfräuliche Geburt glaubt, dann in aller Regel wohl nicht in dem Sinne, dass er die jungfräuliche Geburt beim Menschen für eine gynäkologische Tatsache halten würde. Er glaubt an den Mythos „jungfräuliche Geburt“. Ob so ein Mythos sinnvoll oder hilfreich ist, ist eine andere Frage. Mit den anatomischen Tatsachen kann er ebenso wenig kollidieren, wie der Weltenbaum mit der Geographie.

Anderes Beispiel: die Geschichte vom Turmbau zu Babel ist ein lehrreicher Mythos der Bibel – man erfährt aus ihm sehr viel über menschliche Vermessenheit, und auch etwas über die Gründe, an denen menschliche Vorhaben scheitern. Ein Fundamentalist, der wirklich glaubt, die alten Babylonier hätten mit ihrer Ziggurat den Himmel erreichen wollen, oder der die Vielfalt der menschlichen Sprachen aus der „babylonischen Sprachverwirrung“ zu erklären versucht, verwechselt die Kategorien – und tut dem Mythos Gewalt an.

An Thors Hammer glaube ich übrigens nicht. Ich würde schließlich auch nicht sagen, dass ich an den elektrischen Strom glaube. Im südgermanischen Sprachgebrauch heißt der Gott übrigens Donar, was auf neuhochdeutsch schlicht Donner bedeutet. Es wäre ziemlich albern, zu behaupten,Donner gäbe es nicht.
Ernsthaft: Unter anderem steht Thors Hammer Mjölnir für etwas – er ist ein kraftvolles Symbol, das abstrakte metaphysische Begriffe und wenig anschauliche Naturvorgänge buchstäblich handgreiflich macht. Unter Anderem steht er auch für „elektrische Energie“, auch wenn es im Nordeuropa des frühen Mittelalters noch keine Vorstellung von „elektrischer Energie“ gab.
Aber die Germanen – und andere Völker, der Perun der Slawen und der Thiermes der Sami sind erkennbar „Brüder“ Thors, und Donnergötter gibt es in allen mir bekannten Mythologien – besaßen in Thors Hammer einen Mythos, der ihnen erlaubte, mit Erscheinungen wie Blitz und Donner umzugehen, und der sich, auf seine Art und Weise, in der Praxis bewährte.

Heute stehen uns neben dem Mythos auch Philosophie und Wissenschaft zur Verfügung, aber ein Künstler oder Schriftsteller, der nicht mythisch zu denken versteht, hat es, vorsichtig gesagt, schwer.

Ein Beispiel für moderne Mythen, die sich praktisch bewährt haben, sind das „Über-Ich“, „Ich“ und „Es“ im Sinne der Psychoanalyse nach Freud – jedenfalls wenn man streng wissenschaftliche Maßstäbe anlegt. Diese Mythen „funktionieren“ gut, beschreiben, auch wenn sie keine neurologisch fassbaren Gegenstücke im Gehirn haben, die seelischen Vorgänge auf praktisch brauchbare Art. So wie viele der alten Mythen heute noch „funktionieren“. Mythos, Metapher, Gleichnis und Gedankenexperiment sind im heutigen Spachgebrauch zwar nicht dasselbe, aber dass die Übergänge fließend sind, wird wohl niemand bestreiten. Und da es schiefe Metaphern und irreführende Gleichnisse gibt, gibt es auch unbrauchbare Mythen.

Ich nehme nicht an, dass die altnordischen, altgriechischen, altindischen und altsonstigen Mythen zur Zeit ihrer Ersterzählung rational verstanden wurden, geschweige denn wörtlich aufgefasst wurden. Dagegen spricht z. B. die Erfahrung mit den schon erwähnten schamanistischen Praktiken und dem Weltenbaum, der für alle Umstehenden ersichtlich in der „Alltäglichen Wirklichkeit“ nicht da ist, und auf den der Schamane auch nicht mit seinem fleischlichen Körper hinaufklettert. Der Weltenbaum war von Anfang an „Symbol“, stand „für etwas“, das sich mit „normalen Sinnen“ nicht beschreiben lässt. Eine ganz alltägliche Erfahrung – man versuche nur einmal, z. B. eine Symphonie mit Worten zu beschreiben.

In der modernen Naturwissenschaft entstehen tatsächlich neue Mythen – und zwar aus dem selben Grunde, der schon für den Schamanen galt. Die Quantenphysik lässt sich nur in der abstrakten Sprache der Mathematik beschreiben, jeder Versuch, sich darunter etwas vorzustellen, bringt nicht etwa eine vereinfachte Modellvorstellung hervor, sondern eine mythische Umschreibung.

Wir denken im Alltag kausal, in Ursachen und Wirkungen – sonst würden wir nicht lange Überleben. Der Versuch, in kausaler Sprache a-kausale (aber unzufällige) Vorgänge zu beschreiben, führt zum Mythos.
Ein Problem dabei ist, dass wir in unserer Kultur, infolge eine jahrhundertelangen Entmythologisierung (die unter überzeugten Prostestanten übrigens weiter vorangeschritten zu sein scheint, als unter Agnostikern und selbst Atheisten) im Gegensatzpaar „kausal“ und „zufällig“ denken.
Darin liegt meiner Ansicht nach auch das Hauptproblem beim Diskurs um Kreationismus und „Intelligent Design“: Für die – meist stramm protestantischen (und entmythologisierten) – Kreationisten und ID-Anhänger gibt es nur die Alternative „Zufall“ oder „Planung“ – folglich sind sie auch felsenfest überzeugt, „Darwin widerlegt“ zu haben, wenn sie nachweisen können, dass „purer Zufall“ und mechanistisch verstandene „Naturgesetze“ die Entwicklung des Lebens nicht hinreichend erklären können. Schon simple Beispiele von Selbstorganisation – etwa die Tatsache, dass an einem Kiesstrand mit heftiger Brandung der Kies „nach Größe sortiert wird“ – sprengen in ihrer Unanschaulichkeit das klassische „entmythologisierte Weltbild“. Daraus gibt es zwei Auswege: auf Anschaulichkeit verzichten – konsequente Mathematisierung – oder (einschließendes „Oder“, nicht die „Alternative“: „entweder – oder“!) – der Mythos. In diesem Sinne sind die „harten“ Kreationisten gegenüber den pseudowissenschaftlichen ID-Anhängern wenigstens ehrlich, denn sie verweisen offen auf einen Mythos: das ordnende Eingreifen Gottes.

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