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Donnerstag, März 25, 2004

 
Gesellschaft

„Der Karren braucht zwei Räder“ – eine laute Überlegung

Heute morgen war Leoluca Orlando anlässlich der Vorstellung seines Buches Der sizilianische Karren zu Gast im Morgenmagazin der ARD. Im Gespräch über Mafia und aktuellen Terrorismus stellte er ein paar beeindruckende Thesen in den Raum, immer am Beispiel des „sizilianischen Karrens“, der, im Gegensatz zu Illustration auf dem Buchdeckel seines Buches, als Einachser gedacht ist, also nur zwei Räder aufweist.

Dieses Bild beschreibt er in einem Interview mit I.P.I-News - Zeitschrift der International Partnership Initiative, Nr. 4/2002 Der Karren braucht zwei Räder:
[...]Orlando: In Sizilien gibt es das Bild des Karrens, der zwei funktionierende Räder braucht, um geradeaus fahren zu können. Das eine Rad symbolisiert das Recht, das andere die Kultur. Wenn diese nicht zusammenwirken, kommt der Karren vom Weg ab. Er kann sogar einen Totalschaden erleiden.
[...]
Wenn nur die Kultur funktioniert, kann es passieren, daß wir zum Beispiel wunderbare Konzerte veranstalten, diese aber zu Ehren der übelsten Mafia-Bosse, deren Macht wir dann stärken. Funktioniert nur das Recht, kann es wie im Deutschland der 30er Jahre geschehen, daß die Menschen sich den Gesetzen - welchen auch immer - entsprechend verhalten, so daß das Recht selbst verbrecherisch wird, weil eben der Respekt vor den Menschenrechten ebenso auf der Strecke bleibt, wie der Respekt vor dem Individuum.
[...]

I.P.I-News: Wie haben Sie diesen Karren in Palermo und schließlich ganz Sizilien so zielgerichtet und energiegeladen auf den Weg bringen können?

Orlando: Indem ich als Oberbürgermeister versucht habe, alle Kräfte - politische und wirtschaftliche auf der einen, kulturelle, kirchliche usw. auf der anderen Seite - zusammenzuführen und auf ein Ziel einzunorden: Nämlich das, daß die Menschen ihr Leben und damit ihre Kultur und ihr Recht selbst bestimmen. Daß beides nicht von eigennützigen und verbrecherischen Kräften diktiert werden darf. [...]
Im Morgenmagazin schlug er den Bogen zu aktuellen Ereignissen, alQuaida, Madrid. Er macht keinen Unterschied zwischen Mafia und islamistischen Terroristen oder ETA – genaugenommen sind diese alle, wie die Mafia, ein bestimmter Typ Verbrecher, der einen bestimmten – und wichtigen - Unterschied zum „normalen“ Verbrecher aufweist: Er begründet sein Tun nicht in Habgier sondern in Kultur und Identität. Die Verbrechen werden im Namen einer Kultur begangen – dem einen Rad des Karrens. Wenn man nun den Fehler macht, dem Verbrecher diesen Grund tatsächlich zu zu gestehen, in dem man dessen vorgegebene Identität anerkennt, gibt man die Kontrolle des Rades ab und der Karren ist nicht mehr lenkbar. Wenn man z.B. auf islamistischen Terror der Gestalt reagiert, diesen tatsächlich mit der islamischen Kultur zu verknüpfen gesteht man den Terroristen Deutungsmacht über die Kultur zu, da man diese mit der Kultur identifiziert – und den einfachen Verbrechern eine gesellschaftliche Legitimation für ihr Tun.

Witzigerweise hat dieses Prinzip der zwei Räder scheinbar auch ein anderer erkannt, über den ich gestern bei Jens stolperte: Mu`ammar al-Qadhafis, hierzulande besser in der Schreibweise „Gadafi“ bekannt, Regierungschef von Libyen. Auf dessen Homepage ist ein sehr langes „Positionspapier“ zu finden, in dem Gadafi seinen Standpunkt zum Thema des internationalen Terrorismus beschreibt. Dabei spricht er den Islamisten jegliches kulturelles Vertretungsrecht für islamische Inhalte ab und bezeichnet diesen Anspuch im Gegenteil als Ketzerei und Häresie. Terrorakte an sich hält er dabei grundsätlich für einen falschen Lösungsansatz, da diese Mittel gänzlich den Zweck verraten. Auf Ben Laden und dem Konzept des „islamistischen Gottesstaates nach der Sharia“ geht er dabei auch ein, indem er diesem die kulturelle Deutungskompetenz und Identität abspricht und in die eigenen Hände (und Verantwortung) nimmt:
[…]The word Islamic sharia is too an ambiguous word. It is a concept without likewise the world phoenix.
We are against those and fight them like they do us. Nevertheless we are argumentally stronger than them because we defend a civilized society. We defend the religion against debauchery , heresy and destruction that they exercise.
This is a self-defense. It is necessary , and legitimate . likewise we do not accept a new caliphate succession. We shall resist it with all means we posses. We shall not deliver our necks against to a successor to govern us by order of Allah. Though Allah did not order him to . He Has no contact with Allah.
We are not more dupe and naive to believe that succession is from Allah.
Succession is a heterodoxy from its root.
Any innovation in the religion is a heresy.
And any heresy is an aberration . Aberration and its holder are hell.
Succession is a heresy , infidelity is a heresy.
The prophet did not design a deputy or a successor to him.
We have never heard about a deputy prophet out of Haron that Allah made him minister for Moses.
Therefore , we are against heresy , succession heresy and terrorism.
Where is situated Ben Laden . [...]
Jens erklärt dazu:
[...]Wichtig ist hier, daß Ibn Ladin sich ja in der Nachfolgeschaft der orthodoxen arabischen Kalifenfamilien sieht, denen er ja tatsächlich entstammt.
Zum anderen erklärt al-Qadhafi aber auch, daß er durchaus gegen die westliche Unzüchtigkeit und Idolisierung (Anbetung von anderen Werten als die Allahs) kämpft - allerdings tue er das aus einem anderen Standpunkt: Er habe eine zivilisierte Gesellschaft (und damit meint er nicht die westliche!) zu verteidigen. Dies schließe den Kampf gegen Gewalttätigkeit (der islamistischen Terroristen) jedoch ebenso ein, wie der gegen Maßlosigkeit (des Westens) und Ketzerei (der Islamisten bzw. der arabischen Adelsherrscher).
Insoweit ist eigentlich al-Qadhafis momentaner Kurs kein plötzlicher Gesinnungswechsel, wie er in den westlichen Medien oft verstanden und entsprechend mißtrauisch kommentiert wird, sondern eher eine offenbar notwendig gewordene Korrektur der Methoden.[...]
Diese „korrigierten Methoden“ ist das andere Rad des Karrens: das des Rechtes. Wenn Gadafi im internationalen Umgang, in der „Gemeinschaft“ der Weltgesellschaft, sich mit seinen Mitteln innerhalb der rechtlichen Rahmenbedingungen bewegt, die zur vertretenen Kultur auch passen – denn nur zwei Räder, die zueinander passen können gleichmäßig rollen und so den Karren dahin bringen wo er hin soll – dann zeigt er hier ein gehörigeres Maß an Verständnis (Kultur) UND Konsequenz (Recht) als so mancher hiesige Politiker. Ob man nun einer Meinung ist, was diese Deutung und Realisation der Kultur betrifft ist eine andere Frage – diese kann aber – rechts- und kulturgemäß – im Dialog behandelt werden, so dass kulturelles Verständnis sogar zu kulturellem Austausch führen kann.

Mafia, Gadafi, alQuaida, ETA – was hat das nun mit uns zu tun, mit Asatrú, mit Heiden? Nun, auch wir stehen vor der Frage nach den Rädern des sizilianischen Karrens. Nach der Frage der Mittel und des Rechts und der Frage der Kulturdeutung und Umsetzung. Von wem haben wir uns die Deutung der Kultur aus der Hand nehmen lassen? Oder in Orlandos Worten: zu wessen Ehre führen wir wunderbare Theaterstücke auf? Und welche Mittel stehen uns zur Verfügung, welches Rechtssystem vertreten wir, welche Rechtsprinzipien?

Geprägt von westlichen Idealen, die auf die Geschichte von Christentum, Aufklärung, Säkularisierung und rationalem Denken beruhen, vertreten wir ein pluralistisches Weltbild, das mit Schlagworten wie Freiheit, Toleranz, Menschenrechte, Meinungsfreiheit und, vor allem, Gleichberechtigung (gleiches Recht für alle) angereichert ist. Auf der anderen Seite der Achse steckt ein dazu passendes kulturelles Rad, das mit dem Bild des Netzes der Nornen alle(s) mit allen(m) verbindet – und ein Separieren der Kulturen verbietet, sondern dem vielmehr ein Miteinander der gegenseitigen Befruchtung und des Austausches inne wohnt. Das Recht wiederum stellt dort Grenzen auf, wo die Gleichwertigkeit aller in Frage gestellt wird: hier verlässt man das Recht. Die kulturelle Seite schließt parallel dazu Leute, die sich „außerhalb des Rechts“ positionieren, aus der Kultur, nämlich der Gesellschaft, der Gemeinschaft aus. Hier laufen Räder im Gleichklang, der Wagen ist steuerbar.

Aus dem Gleichgewicht kommt der Wagen dann, wenn er unterschiedliche Räder besitzt, die nicht mehr miteinander laufen. Sei es auf der Seite des „Rechts“, wenn z.B. Menschen in verschiedene Wertigkeiten eingeteilt werden, wenn anderen auf Grund deren Abstammung oder Kultur o.ä. Rechte abgesprochen werden, usw., oder auf der Seite der Kultur, wenn man Menschen, die im Gegensatz stehen zur eigenen Kultur und Rechtsauffassung die eigene Identität zugesteht – und damit die Deutungskompetenz über die eigene Kultur aus der Hand gibt.

Die Beschäftigung, nein, die Identifizierung mit „germanischer Kultur“ führt immer noch fast automatisch zum Verdacht „Nazi“ zu sein. Aus demselben Grund, warum jeder Sizilianer Mafiosi war, oder jeder Baske ein Bombenleger. Und jeder Moslem potentieller Terrorist ist.

Die Sizilianer haben sich erfolgreich ihre Kultur wiedergeholt, ähnliches ist den Basken gelungen und auch in Nordirland ist einiges passiert – die „normale“ Bevölkerung ist hingegangen und hat den Terroristen, den Verbrechern gesagt: „Nein, agiert nicht in unserem Namen. Ich erinnere mich noch gut an die großen Demos im Baskenland vor einigen Jahren. Ich erinnere mich auch noch gut an den beinahe erfolgreichen Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern. Letzterer ist zugleich eine Warnung: die Verbrecher lassen sich die Macht über das „kulturelle Rad“ nicht ohne Gegenwehr nehmen. Es gehört Mut dazu, und die Bereitschaft, Risiken einzugehen. Orlando lebt nicht ohne Grund seit Jahren unter höchstem Polizeischutz.

Für uns bedeutet das Bild vom sizilianischen Karren folgendes: Wir sind die Vertreter unserer Kultur. Rechtradikale, Ariosophen, Rassisten und Antidemokraten, die sich als „germanisch“ identifizieren und ihre Haltungen damit begründen sind keine Asatrú, wenn Asatrú auch nur irgendetwas mit germanischer Kultur zu tun haben soll. Sie stehen außerhalb dessen, was als Recht bezeichnet werden kann, wenn Recht auch Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit der Menschen und Respekt vor Leben und sich befruchtender Vielfalt bedeutet. Und damit außerhalb der Gesellschaft, des menschlichen Zusammenlebens und des Zusammenlebens aller Kulturen. Sie sind keine Vertreter irgendeiner Kultur. In diesem Sinne sind sie Verbrecher, Verbrecher am Recht auf Respekt und Gleichwertigkeit, also am Menschen-Recht. Nichts sonst. Sie haben sich selbst ausgestoßen.

Was heißt das nun aus der „kulturellen“ Warte? Ganz einfach: solchen Leuten hilft man nicht und kommuniziert das entsprechend und/oder fordert es ein. Sie sind Rechtlose. Nicht weil etwa wir sie verurteilten – nein, weil sie sich selbst außerhalb des Rechts gestellt haben. Und damit außerhalb jeglicher kulturellen Identität. Somit kann man solchen gar keine kulturelle Identität zugestehen, und wenn sie selbst eine, womöglich auch noch „germanische“ für sich beanspruchen kann es nur eine Antwort geben: ein eindeutiges, kompromissloses und konsequentes NEIN! - denn alles andere würde Unrecht zu Recht erklären und man würde sich selbst in derselben Weise ins Unrecht setzen – und damit aus der Gesellschaft und der Kultur ausstoßen. Hier gibt es kein „neutral“. Es geht nicht um „Toleranz“, denn Toleranz ist ein Rechtsanspruch, den nur jene haben, die diesen Anspruch selbst erfüllen und das Recht selbst anerkennen.

Es geht um unsere Kultur – um unsere Identität.
Und um unsere Verantwortung gegenüber unserem sizilianischen Karren, der nicht von Verbrechern kontrolliert werden darf.

Diese Überlegungen sind noch nicht abgeschlossen und in einigen Aspekten mit Sicherheit auch noch nicht vollständig. Ich würde sie gerne im Forum diskutieren und dort vielleicht zu einem detaillierteren Ergebnis bringen.

von Hellblazer 14:54 | Einzelansicht & Kommentare (0)


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