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Als die Sau noch Göttin war
Duke Meyer, 2000
Vorwort, oder: warum, wieso, weshalb
"Die alten Germanen, sie lagen / zu beiden Ufern des Rheins / Sie lagen auf Bärenfellen / und tranken immer noch eins."
Dieser leicht dümmliche Spruch, gefunden auf dem Etikett einer 1999 im fränkischen Bayreuth erstandenen Flasche Met (Honigwein), spiegelt eins der wohl noch harmloseren Klischees über "die Germanen" wider.
Auf wild wogenden Wellen heranwallende wotanwütige Wagner-Wikinger mit Hörnerhelmen, darüber wolkenreitende Walküren , die nach wie vor hurtig ( hoyotoho! ) durch die heutige Hochkultur von Oper und Operette herumgeistern, sind höchstens abschreckend lächerlich und schaden (möchte man meinen) doch eigentlich niemandem auch wenn solche Figuren mit der vormittelalterlichen Wirklichkeit Europas ebensowenig zu tun haben wie z.B. (sagen wir mal) die Lebenswirklichkeit nordamerikanischer Ureinwohner mit der altdeutsch eingekitschten Indianerromantik eines Karl May.
Wenn jedoch ein Rechtsradikaler Amok läuft, auf Menschen schießt und anschließend behauptet, er habe Mord und Mordversuche "im Auftrag Odins" begangen, wird die Sache schon etwas ernster besonders, wenn sich niemand über einen solchen Zusammenhang groß wundert oder ihm gar widerspricht. So geschehen 1996 im rheinischen Recklinghausen aber nicht nur dort, und nicht nur dann.
Anderes Beispiel, eines von vielen: Der berüchtigte Berliner Neonazi Arnulf Priem nennt seine paramilitärische Terrorgruppe "Wotans Volk", und keiner widerspricht ihm. Auch zahlreiche andere Gruppen, vom rassistischen "Armanen-Orden" bis zur faschistischen "Wiking-Jugend", berufen sich auf angeblich "germanisches" Erbe, benutzen willkürlich Runen und andere germanische Symbole, und keiner widerspricht ihnen. Warum auch? Es ist ja allgemein bekannt, daß sich die Nazis auf die "alten Germanen" beriefen, sich ihrer Symbolik und ihres Mythenschatzes bedienten. Und spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sind Germanentum und Sieg-Heil-Gebrüll für die meisten zivilisierten Menschen dieselbe oder doch zumindest die gleiche braune Soße.
Germanentum, jegliches: heutzutage (ist es) zutiefst diskreditiert, auch und gerade für die seriöse Wissenschaft. Der Holocaust erschreckte die zivilisierte Menschheit, doch was unterscheidet die deutschen Verbrechen wirklich von denen eines Pol Pot, eines Bokassa oder eines Stalin? Nicht die ungeheure Zahl der Opfer, auch nicht die Mordmethoden, die m.E. nur (den Schattenseiten) der jeweiligen Kultur entsprechen, nein: Es ist der ideologische Hintergrund er allein macht die Verbrechen Hitlerdeutschlands so schwer vergleichbar mit den anderen und sonstigen Barbareien unserer Epoche. Der Rassismus der Nazis und die (heutzutage so auffällig schwer begründbare) Begeisterung des damals fast gesamten deutschen Volkes für Hitler hatte letztlich auch und vor allem okkulte Wurzeln, die fern jedes zivilisatorischen Verständnisses lagen. Die Menschheit (inklusiv mancher Deutscher) erschrak nach der lückenlosen Aufdeckung der Naziverbrechen tatsächlich. Mit solch einem grauenhaften Sumpf wollte man nichts (mehr) zu tun haben. Und genau deshalb fand eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den pseudoreligiösen Inhalten der Nazis niemals statt, nicht in den Nürnberger Prozessen, und schon gar nicht danach. Der seitdem andauernde stillschweigende Großversuch, das Thema ausschließlich rational zu erklären, füllt Bände und Filmrollen ebenso tonnenweise wie vergeblich. Was ebenfalls nicht stattfand, war eine Rehabilitation der Germanen. Das lag wohl auch an der Scham einer internationalen Wissenschaft, die im 19. Jh. drauf und dran gewesen war, krudesten Rassismus salonfähig zu machen dies im Gefolge einer (nach heutigen Maßstäben und Erkenntnissen gründlich unwissenschaftlichen, jedenfalls aber unreflektierten) Begeisterung für angeblich germanisch-keltische Wurzeln des Abendlandes, die absurd zu überhöhen und zu idealisieren um die Jahrhundertwende offensichtlich Mode war .
Oder inhumane Konsequenz: denn schließlich mußte weltweiter Kolonialismus gerechtfertigt werden ausgerechnet von Nationen, deren Religion angeblich die Nächstenliebe war und ist. Dieser offensichtliche Widerspruch zwischen Sklavenhalterei und Ausbeutung einerseits und christlicher Bergpredigt anderseits ließ sich wohl nur mit der Lehre von "unterschiedlich wertvollen Rassen" übertünchen. Groteske Ergebnisse solcher Bemühungen waren u.a. die Theosophie im allgemeinen und deren Kind, die Ariosophie, im besonderen.
Kurze Erklärung: Die Anhänger der Ariosophie behaupten (damals wie heute), die Menschheit stamme angeblich vom fernen Stern Aldebaran. Auf der langen Reise zur Erde hätten sich die "fünf Wurzelrassen" der Menschheit illegal miteinander vermischt, das Ergebnis seien "niedere" und "minderwertige Rassen" auf der Erde, die dazu bestimmt seien, von den "höheren Rassen" beherrscht zu werden. Als "höher" gelten dabei die Hellhäutigen und (im Idealfall) Blondhaarigen, die sich vor weiterer Vermischung schützen müßten, um nicht unterzugehen. Eine einfache Sündenbock-Theorie: Denn was an den angeblich "höheren Rassen" im Einzelfall nicht astrein sein sollte, verschulden laut Ariosophie immer die anderen, die "dunklen". Da natürlich niemand perfekt ist, geht diese Sündenbock-Rechnung immer auf: Die Feindbilder können wechseln, ein Feind (auf den das eigene Minderwertigkeitsgefühl projiziert wird) ist aber immer präsent.
Der aus all dem letztlich resultierende fremden- und judenfeindliche Okkultismus der Nazis hat sich fast wahllos germanischer Symbolik bedient und diese gründlich mißbraucht seit Auschwitz haftet auch allem Germanischen der Ruch des Verbrechens an, zumindest für aufgeklärte und rationalistische Zeitgenossen. (Die weniger rationalistischen indes, namentlich sogenannte Neuheiden, neigen heute dazu, in dieselben Fallen zu tappen wie ihre historischen Vorgänger vor über 100 Jahren. Theosophie und Ariosophie, die metaphysischen Grundlehren für rassistische Verschwörungstheorien aller Art, feiern unter zeitgenössischen esoterischen Sinnsuchern unerkannt giftige Urständ΄. Doch bleiben wir einstweilen bei der Mehrheit.)
Die tiefe, ja beinahe instinktive Ablehnung all dessen, was irgendwie "germanisch" riecht, geht leider so weit, daß das Thema heute niemanden mehr interessiert.
Nazis und Germanen der unerkannte Gegensatz
Germanen dieses Thema ist kein Thema. Dadurch wird die Definition dessen, was germanisch war, und was germanisch ist, den ideologischen Nachfolgern der alten Nazis überlassen. Auf deutsch: Wir lassen uns wichtige Teile der Geschichte und Vorgeschichte von Völkermördern und deren Sympathisanten deuten. Ich will etwas anderes. Ich will die Spreu vom Weizen trennen. Ich will mir europäische Geschichte und Vorgeschichte nicht von Kulturverächtern, sozialdarwinistischen Mördern und Menschheitsverbrechern diktieren lassen. Ich will mir dieselbe Geschichte und Vorgeschichte auch nicht von bewußt frömmlerischen, unbewußt faschistoiden Esoterikern venebeln (und damit abermals verdrehen) lassen. Ich will ferner nicht mindestens sechs (bis maximal 15) Jahrhunderte weiterhin totgeschwiegen oder mit Nebensätzen übergangen wissen von gutmeinenden Geschichtsschreibern, die sich schämen für Schauergeschichten über Heidenbräuche, die altrömischer oder frühkirchlicher Propaganda oder eben der Goebbels΄ entspringen. Ich will Tatsachen aufzeigen und belegen. Ich will ansatzweise erläutern, was Germanen von denen unterscheidet, die sich (gestern und heute) so gern auf sie berufen.
Mein Fazit: Hält man sich an historische Fakten, sind Germanentum und Nazitum unvereinbar. Ihre Werte und Weltbilder sind nicht nur verschieden, sondern diametral entgegengesetzt. Hätten die Deutschen wirklich germanisch empfunden, wäre Hitler Anstreicher geblieben und Himmler ausgelacht worden. Falls es solche Gestalten tatsächlich zu irgendeiner Führerschaft gebracht hätten, wären sie allerspätestens 1942 als Sakralopfer fällig gewesen (vermutlich aber schon 1939. Zugegeben: Zum Sakralopfer hätte es wohl doch nicht ganz gereicht, weil man Hitler eher schon 1933 abgesetzt hätte: dies ganz unsakral, aber herzhaft) ganz davon abgesehen, daß die Ausgrenzung ganzer Volksteile (von deren Ermordung mal zu schweigen) germanischem Denken und Handeln total widerspricht. Soziale Ausgrenzung von Teilen der Gemeinschaft (im deutschen Falle damals vor allem der Juden) ist historisch belegbar das ungermanischste, was man sich überhaupt vorstellen kann. Es gibt keinen einzigen nationalsozialistischen Kernsatz oder Wunsch, der irgendwie "germanisierbar" wäre hält man sich an die historischen Fakten. Germanische Kulturen waren weder rassistisch noch nationalistisch; Stechschritt und Kadavergehorsam sind keine germanischen Werte, sondern preußische Erfindungen; germanische Stämme definierten sich nicht über reale Blutsverwandtschaften, sondern spirituelle Bindungen; germanische Führer hatten keine diktatorische Macht, sondern soziale Verantwortung, zu der sie ggf. sehr real gezogen wurden; kurz eine germanische Nation hat es nie gegeben, denn: Mit Stammeskulturen ist kein Staat zu machen.
Das Böse will ich nicht beklagen, sondern bekämpfen. Dazu muß ich Gutes tun, muß sozusagen im Guten wurzeln und der unpopuläre Aspekt meiner These ist, daß dieses Gute mit germanischer Kultur zu tun hat. Die kann und will ich keineswegs idealisieren vielleicht, weil germanische Kultur selbst kaum Ideale in unserem Sinne kannte, sondern nur Rezepte, die sich als praktisch, als alltagstauglich erwiesen. Das bedingte deren ständige Veränderungsbereitschaft, sprich: Flexibilität. Die germanische Mythologie kennt kein Paradies, sondern nur ein geschicktes Balancieren zwischen kosmischen Spannungsverhältnissen. Dementsprechend rauh, kantig und unrund klingen ihre Überlieferungen. Germanische Götter sind keine allmächtigen Schöpfer, sondern Vorbilder: übermenschlich zwar, aber mit erheblichen Macken. Auf deren Form und Sinn komme ich noch zu sprechen.
Die Nazis jedenfalls hatten und haben von germanischen Göttern nicht die geringste Ahnung. Sie erschlugen Europa mit dem Knauf des germanischen Schwerts, doch sie umfaßten es stets an der Schneide. Tatsächlich meine ich es so wie ich΄s sage. Die Nazis stellten die germanische Kultur auf den Kopf. Sie konnten sich der sogenannten "Germanen" nur bedienen, indem sie germanische Werte in ihr Gegenteil verkehrten. Zum Teil sogar buchstäblich, wie das sogenannte Hakenkreuz beweist: Die Swastika drehte sich bei Germanen und deren Vorfahren anders herum (spiegelverkehrt, müßte man heute sagen); als altes Sonnensymbol war sie weiß, nicht schwarz. Aus dem mindestens fünf Jahrtausende alten Zeichen göttlichen Lebens wurde in nur wenigen Jahren weltweit das des fanatischen Mordes. Doch ich will mich nicht mit Äußerlichkeiten begnügen. Mit "rassischer Reinheit" hätte das historische Völkergemisch der echten "Germanen" ebensowenig anzufangen gewußt wie mit dem asozialen "Herrenmenschen"-Ideal der deutschen Faschisten. Bereits der germanische Götterhimmel präsentiert sich weniger als blauäugiges Heldenepos denn als burschikoses Behindertenballett davon später mehr.
"Wer Wind sät, wird Sturm ernten," sagt die Bibel. Ich ergänze hiermit: "Wer Sturm ruft, erntet Wotan" und dessen archaischer Kraft (samt kultureller Implikation) sind Rassisten, wie die Geschichte schon einmal bewies, nicht gewachsen. Aus dem beschworenen "Endsieg" Deutschlands wurde dessen bedingungslose Kapitulation, aus "Ahnenerbe" Geschichtsvergessenheit, aus dem drittklassigen deutschen "Reich" eine erstrangige Katastrophe. Vielleicht hätten sich die Deutschen vor 60 Jahren doch etwas besser informieren sollen, welche Geister sie da riefen und welcher unbekannten, ja fremden Kultur die tatsächlich entstammten. Über diese unbekannte Kultur möchte ich sprechen.
Wer waren "die Germanen"?
Sehr einfach: Es hat sie nie gegeben. Das Wenige, was wirklich über germanische Kultur(en) bekannt ist und bekannt war, taugt seit je allen Außenstehenden zur beinahe beliebigen Projektion. Für den römischen Feldherrn Gaius Julius Caesar waren "die Germanen" einfach jene Barbarenstämme, die östlich des Rheins lebten. Die Stämme westlich des Rheins seien die Kelten so einfach machten es sich die römischen Eroberer vor 2000 Jahren. Caesars Bestreben war es, mit "de bello gallico" einen Eroberungskrieg vor dem römischen Senat zu rechtfertigen. Der römische Geschichtsschreiber Tacitus wiederum benutzte mit seinem Wissen aus zweiter Hand (Gymnasiasten leidvoll bekannt als "Germania") Erzählungen über germanische Kultur dazu, der von ihm als dekadent empfundenen römischen Stadtbevölkerung das Ideal der "edlen Wilden" vorzuhalten. Ein Polit-Stratege hie, ein antiker Karl May da unbrauchbar sind beide Schriftzeugnisse dennoch nicht; man muß sich nur vergegenwärtigen, welcher Intention sie folgten. Ob antikes Rom oder jüngstes Deutschland: An einer realistischen Darstellung germanischer Verhältnisse war jedenfalls die längste Zeit der Geschichte niemand interessiert!
Wechselnde Bündnisse und Fehden sowie gegenseitige Kultureinflüsse unter den mittel- und nordeuropäischen Völkerschaften machten es den Römern sicher auch schwer, zwischen der bunten Vielfalt germanischer und keltischer Stämme zu unterscheiden die entsprechenden Fehldeutungen pflanzen sich bis in unseren heutigen Sprachgebrauch fort. Wer hält z.B. die Teutonen nicht für Germanen? Tatsächlich neigt die Wissenschaft inzwischen dazu, die Teutonen zu den Kelten zu rechnen der Stammesname "Teutonen" geht nach heutiger Auffassung auf Teutates zurück. Die Asterix-Leser unter uns atmen auf, endlich mal wieder was Vertrautes... Tatsächlich: Teutates ist eindeutig ein gallischer, also keltischer Gott. Wer aber waren denn nun Kelten und Germanen, und wieso hat es zumindest letztere laut meiner Aussage nicht gegeben?
In der heutigen Wissenschaft werden Völker, neudeutsch "Ethnien", und Volksgruppen nach ihrer Sprachzugehörigkeit definiert. Demnach kann man solche Kulturen germanisch nennen, in welchen germanische Sprachen gesprochen wurden. Macht man sich die Mühe, einen historischen Atlas aufzuschlagen, der mit heutigen Mitteln Europa vor 2000 Jahren zu gliedern versucht, wird man über die geographischen Gegebenheiten nördlich des Limes folgendermaßen informiert: "Vermutlich Wald", "vermutlich Sumpf" lauten die lapidaren Angaben über den halben Kontinent nördlich des Römischen Imperiums.
Die sog. Indoeuropäer Vorläufer der Kelten, Slawen, diverser Mittelmeerkulturen und auch der späteren Germanen kamen aus dem vorderindischen bis kaukasischen Raum. Einwanderungswellen indoeuropäischer Hirtenvölker aus asiatischen Steppen gab es mehrere, und die anschließende Vermischung mit den bäuerlichen Urbevölkerungen Europas erstreckt sich über den Zeitraum von Jahrtausenden: Was davon erhalten blieb, sind spärliche Scherbenfunde, Keramikreste, ein paar Gräber, und vergleichbare Misch-Mythen quer durch die Kulturen.
Der indoeuropäische Zug der späteren Germanen jedenfalls endete im Gebiet des heutigen Dänemark, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern sowie im ostrheinischen Teil der heutigen Niederlande (was archäologisch der Ausdehnung der sog. Harpstedt- und Jastorfkultur entspricht). Die urgermanische Sprache wird auf ca. 2000 v.Chr. datiert; erst 200 v.Chr. teilte sie sich auf in einen nord- und einen südgermanischen Dialekt. Bemerkenswert bleibt, daß ein gutes Drittel des urgermanischen Wortschatzes sich heute nicht mehr zuordnen läßt. Dieses Drittel ist nicht indoeuropäisch, es stammt auch definitiv nicht aus der Megalithkultur (den mutmaßlichen Erbauern von Stonehenge) 2000 v.Chr.; seine Herkunft verliert sich völlig im Dunkeln. Die unbekannten Worte müssen kurz vor 2000 v.Chr. übernommen worden sein: kein Mensch weiß, von wem.
Von "germanischer Kultur" läßt sich etwa seit 500 v.Chr. sprechen. Germanen sind ein Ergebnis zahlloser Wanderungen, Kämpfe und Vermischungen verschiedenster Volksstämme. Nicht Geschichte, nicht Politik, nicht Verwandtschaft, nein: Kultur war das einzige, was sie gemeinsam hatten. Und selbst das ist ein relativer Begriff. Denn der Gesamtheit der germanischen Stämme also derjenigen Stämme mit germanischen Dialekten und Sitten fehlte jedes Gemeinschaftsbewußtsein über den eigenen Stamm hinaus. Fehlte? Tatsächlich ist diese Haltung üblich bei archaischen Stammeskulturen in aller Welt.
Die Germanen hat es also deshalb nie gegeben, weil sich zwischen 500 Jahren vor und 900 Jahren nach Christus niemand selbst so bezeichnet oder gesehen hat. Diejenigen Leute von damals, die wir heute Germanen nennen, hätten sich selbst Chatten, Sueben, Istwäonen, Ingwäonen, Langobarden, Burgunder, Goten, Vandalen, Alamannen, Markomannen, Quaden, Hermunduren, Cherusker, Semnonen, Bataver, Gepiden, Rugier, Ambronen, Hasdingen, Warnen, Kimbern, Thüringer, Saxen, Angeln, Bajowaren, Franken oder sogar vollkommen anders genannt, denn viele Stammesnamen, die wir heute kennen, stammen nicht von diesen Stämmen selber. Was diese aber über sich und ihre Gepflogenheiten im einzelnen hätten sagen können, hätte zwangsläufig nur für Chatten, oder für Langobarden, oder für Vandalen, oder eben jenen einen Stamm gegolten, dessen Angehörigen wir gerade angesprochen hätten nicht aber für die sprachlich verwandten "Stämme nebenan". Wenn ich sage, es hat keine Germanen gegeben, meine ich damit: Es hat über die gemeingermanische Kultur und Mentalität hinaus kein germanisches Selbstverständnis gegeben: kein politisches, und schon gar kein "rassisches".
Die germanischen Stämme waren Personenverbandsgesellschaften; sie definierten sich nicht nach Territorien wie Staaten, sondern nach Zugehörigkeit zu Personen und zu Göttern. Der Gedanke eines pan-germanischen Selbstverständnisses im Sinne eines faktischen oder auch nur theoretischen germanischen Nationalstaates ist ein Widerspruch in sich: Mit Stammeskulturen ist kein Staat zu machen schon gar kein militärischer. Berserker laufen nicht auf Befehl, und schon gar nicht im Gleichschritt: Grundlage ihrer Kampfmethode ist nicht soldatischer Gehorsam, sondern schamanische Ekstase. Berserker, Bärenfellkrieger das waren nach germanischem Verständnis Kämpfer, die sich in wilde Tiere verwandelten. Wolf, Bär und Katze waren dabei nur die populärsten (vgl. hierzu auch den germanischen Stammesnamen "Chatten").
Die Geschichte beweist, daß man damit zwar viel Ruhm gewinnen kann, aber keine Kriege. Den disziplinierten und straff durchorganisierten Heeren des Römischen Reiches waren die schlechtausgerüsteten germanischen Horden militärisch ähnlich hoffnungslos unterlegen wie die amerikanischen Indianer der U.S.-Kavallerie; Ausnahmesiege wie Teutoburger Wald hie oder Little Big Horn da bestätigen die traurige Regel. Als militärisches Vorbild taugen die hoch individualistischen Germanenkriegerinnen und -krieger nun wirklich nicht.
Kriegerinnen? Schriftliche Quellen wollen nichts von ihnen gewußt haben, aber was sagen schon schriftliche Quellen über eine Kultur, die ihre literarische Hinterlassenschaft auf ein paar magische Kritzeleien beschränkt? Von der Höhe ihrer urbanen Zivilisation sahen die geschichtsschreibenden Römer naserümpfend auf die schriftlosen Länder der Analphabeten herab, und sahen dort eigentlich nur Wald. In den Hainen dieser Wälder aber, ihren natürlichen Tempeln, gaben germanische Priester die Geschichte ihrer Stämme ausschließlich mündlich weiter. Über manche Moorleichenfunde wird noch gestritten; doch im frühmittelalterlichen Gräberfeld von Niederstrotzingen z.B., (nicht groß, aber überdurchschnittlich reich an Waffen- und Panzerbeigaben), fand man auch eine schwerbewaffnete Frau. Das mag jetzt dünn klingen ich will auch gar nicht germanische Amazonenheere beschwören, die es in der Form nicht gegeben hat. Aber hinweisen kann ich auf die Mythen der Rabengeist-Dämoninnen, der leichenfressenden Valkyries (damals war Bravheit noch kein weibliches Ideal); auf das Vorrecht der Göttin Freyja, die Hälfte der auf dem Schlachtfeld gefallenen Krieger nach Folkvang zu bringen, bevor Odin den verbliebenen Rest nach Walhall einlädt; sowie auf die Tatsache, daß derselbe Odin all seine schamanischen Künste und Überlebenstricks von ebenjener Freyja erlernte. Auch ist der Mann Odin ein Wissenssucher, während sein weibliches Pendant, die Obergöttin Frigg, ebendieses Wissen in persona bereits verkörpert. Um hinter die Dinge schauen zu können, opfert Odin ein Auge von Frigg selbst erfährt er nichts: Da ist er schon auf deren Zofe Saga angewiesen, die ihm ab und zu eine Info der Herrin steckt.
In der germanischen Religion reicht die Bandbreite der Weiblichkeit von der sanft-heilerischen Idun über die katzenartig aufbrausende Freyja bis hin zur Hel, der Herrin des Totenreichs. Ich kenne mehr germanische Göttinnen als Götter, und selbst die allen Gottheiten weit übergeordneten Schicksalsmächte, die drei Nornen, dachten sich die Germanen als personifiziert weiblich.
Hinweisen läßt sich auch, schon realer, auf die (mehrfach von Römern überlieferte) germanische Sitte, daß germanische Frauen ihre Männer vielfach in den Kampf begleiteten und bei wankendem Schlachtglück durchaus selbst mit eingriffen. Vielfach belegt ist auch die Tradition der germanischen Seherinnen, der Völvas. Die bekannteste heißt Walpurga, und eine interessante Nacht ist heute noch nach ihr benannt. Es ist halt immer die Frage, wer Geschichte schreibt, wofür, und für wen. Tatsache ist, daß die Männer meist lauter schreien: nicht nur im Kampf, sondern per se. Wer auf die Macht der Frauen stoßen will, darf sich nicht vom männlich-angeberischen Lärm davor abschrecken lassen. Das echte Potential liegt in der Tiefe, und dahinter. Geschichts-Schreibung ist nicht die einzige Art, Geschichte zu überliefern.
In der Edda, der altnordischen Sagen- und Mythensammlung, aufgeschrieben in längst christlicher Zeit auf Island, ist nichtmal mehr (die süddeutsche) Ostara bekannt. Aber Hase und Ei gehörten zu ihren Symbolen, und noch heute trägt ein christliches Auferstehungsfest den heidnischen Namen der Frühlingsgöttin.
Geschichtliches Umfeld
Germanische und keltische Stämme hatten, ebenso wie die Vorfahren der klassischen griechischen Völker, indoeuropäische Wurzeln, und die liegen in der asiatischen Steppe. Hirtenvölker in grauer Vorzeit wanderten in Abständen von mehreren tausend Jahren aus Asien nach Indien, Mittel- und Nordeuropa ein und vermischten sich mit der dort ansässigen ackerbauenden Urbevölkerung, über die uns heute fast nichts bekannt ist.
Aus diesen Vermischungen gingen im Verlauf der Bronzezeit die späteren Kelten und Germanen hervor, die eine Reihe von Gemeinsamkeiten hatten. Beide hinterließen sie keinerlei schriftliche Aufzeichnungen, sondern nur rätselhafte Ritzzeichen: Ogham, das Zeichensystem der Kelten, symbolisierte verschiedene Bäume und gehört zu den wenigen Hinterlassenschaften der sagenumwobenen Druiden; die germanischen Runen dagegen sind, zumindest in ihrer Frühzeit, der mögliche Schlüssel zu einer ganzen Kosmologie. Die beiden Ritzzeichen-Systeme haben nichts miteinander gemein, außer daß sie vorwiegend für magische, also spirituelle Zwecke gebraucht wurden. Die Herkunft beider Systeme liegt im Dunkeln.
Der vielleicht augenfälligste Unterschied zwischen germanischer und keltischer Kultur besteht in der Gesellschaftsstruktur. Sowohl Kelten als auch Germanen waren Polytheisten mit animistischem Weltbild, bekannten sich also zu einer ganzen Reihe verschiedenster Gottheiten, die im Wesentlichen personifizierte Naturkräfte darstellten. Was aber die keltischen Stämme, obgleich (stammestypisch) oft untereinander zerstritten und verfeindet, über den Glauben hinaus verband, war die Organisation ihrer Druiden eine Priesterschaft, die von ihren Adepten eine Ausbildung verlangte, die mehrere Jahrzehnte dauerte (wozu das Auswendiglernen einiger zehntausend Verse gehörte). Da die Druiden der verschiedenen Keltenstämme untereinander rege Verbindung hielten, gaben sich die antiken Römer alle Mühe, bei ihren Kriegen gegen die Kelten als erstes das Druidensystem zu zerschlagen. Einen vergleichbar stammesübergreifenden Aspekt wie die Druiden gab es bei germanischen Stämmen nicht. Vielerorts ist bei denen sogar hauptberufliche Priesterschaft ungewiß. Ob Trauung, Kindstaufe oder Grabrede: War kein Goπi oder keine Gydhia vorhanden oder greifbar, übernahm die priesterlichen Aufgaben einfach der jeweilige Haus- oder Sippenvorstand. Und die jeweiligen Opferzeremonien, den Gottesdienst, vollzog der Einzelne wie auch die Gemeinschaft sowieso von selbst und nach persönlichem Gusto. (Details jener Gottesdienstformen sind nicht überliefert.)
Während sich die Kelten mit ihren überlegenen Eisenwaffen über weite Teile Europas verbreiteten von Portugal bis zum Ural , bestellten die Germanen die kargen Böden ihres nördlichen Refugiums noch mit allerprimitivsten Holzpflügen und hielten Bronzeäxte für Hi Tech. Erst mit dem Rückgang des keltischen Einflusses, bedingt durch das expandierende Römerreich, wagten sich die germanischen Stämme weiter nach Süden, und erst ab da läßt sich, zumindest in Bruchstücken, von so etwas wie germanischer Geschichte sprechen. Uns Heutigen präsentiert sich diese Geschichte vor allem als das schwer durchschaubare und vielleicht ja typisch germanische Chaos der sogenannten "Völkerwanderung", denn mit der Christianisierung (und der damit verbundenen Erfindung von Glaubensstreit und Religionskrieg in Europa) war es mit germanischer Kultur auch schon wieder vorbei. Als späte Nachzügler germanischer Völkerwanderungen machten die skandinavischen Wikinger Meere und Küsten unsicher (wenn auch ganz ohne Hörnerhelme) kamen sogar bis nach Amerika, was damals freilich niemanden groß interessierte und gingen schließlich in den Völkern, die sie eroberten, einfach und restlos auf.
Auch die Geschichte der Wikinger ist vornehmlich von deren Feinden überliefert und liest sich entsprechend. Wesentliche Teile des heutigen Germanenbildes stammen aus dieser Spätzeit, und davon ist das meiste auch noch falsch (siehe Hörnerhelme: mit einem solchen auf der Birne kann man nämlich nicht kämpfen, und wenn, dann nur einmal). Von den skandinavischen Felszeichnungen der Bronzezeit, die erstmals die Swastika (besser bekannt als "Hakenkreuz") und andere (vor-)germanische Mythen und Symbole zeigten (wie z.B. eine hammertragende männliche Gottheit) bis hin zu den rheumageplagten jungen Seefahrern des 10. Jh. n.Chr., die den hammerschwingenden Thor anriefen und den wütenden Kriegsgott Odin, führt nicht eine lange Entwicklung, sondern ein ganzes Gewirr verschiedenster Entwicklungen. Ebenso wie es "die Germanen" nicht gegeben hat, gab es "die germanische Geschichte", oder irgendeinen "typisch germanischen" Zustand (vielleicht ausgenommen den der kollektiven Unruhe). Aber bleiben wir beim Thema.
Germanische Gesellschaftsstrukturen
Die Forschung versuchte lange, die germanischen Stämme als Groß- oder Übersippe zu sehen, um das Sippenschema als Kernelement germanischer Gesellschaft auf den Stamm zu übertragen, diesen also als überdimensionale Großfamilie zu deuten. Zu dieser Erklärung trug auch die Mitte des 18. Jh. grassierende Stammesromantik bei, aus deren wohlmeinenden Irrtümern dann handfeste Perversionen wie Ariosophie und die "Blut-und-Boden"-Ideologie der Nazis erwuchsen. Allerdings vertrug sich die Sippentheorie nicht mit der Tatsache, daß sich die zahlreichen germanischen Kleinstämme und lockeren Kultgemeinschaften aus der Zeit des Tacitus (100 n.Chr.) zwischen dem 4. und 6. Jh. zunehmend zu Stammesverbänden und Großstämmen zusammenschlossen. So deutete die Forschung germanische Gesellschaften mal als Kult-, mal als Wirtschafts-, dann wieder als Heiratsgemeinschaften nur um festzustellen, daß es all das bei einigen Stämmen gab, bei anderen wieder nicht. Es gab Arbeitsteilungen unter Stämmen, ohne daß diese zu einem zusammenwuchsen. Andere gingen plötzlich und ohne ersichtlichen Grund ineinander auf. Es half nichts, daß die Stämme offensichtlich behaupteten, Abstammungsgemeinschaften zu sein, es aber ebenso offensichtlich nicht waren.
Typischstes Beispiel hierfür ist das Phänomen des sog. "Gotischen Rückstromhorizonts": Dieses archäologische Begriffsungetüm bezeichnet eine Gotenwanderung, die von drei Auswandererschiffen ausging. Drei handgeruderte Schiffe das bedeutet eine maximale Anzahl von 100 Personen, mit Gepäck und Tieren eher weniger. Diese kleine Schar wanderte zunächst durch das heutige Polen in den pontischen Steppenraum, von dort aus um das Schwarze Meer herum in den Karpatenraum und an den Unterlauf der Donau. Dann kamen sie über Italien bis nach Spanien.
100 Jahre nach dem Aufbruch der drei Schiffe zählte der Stamm dieser Wandergoten schon mehrere tausend Personen. Eine derartige Massenvermehrung ist auf biologischem Wege bestenfalls bei Karnickeln vorstellbar unter Menschen konnte das nur erreicht werden, indem ganze Sippen anderer Stämme und Kulturen in den Stamm der Goten aufgenommen wurden. Obendrein riß der Kontakt zur alten Heimat nie ab. Neue Schmuck- und Waffenformen der Donaugoten wurden von den Daheimgebliebenen noch in derselben Generation kopiert.
Das Rätselraten der Wissenschaft über dergleichen Phänomene hat einige einfache Ursachen. Zum einen wurde aufgrund nachträglich projizierter Stammesromantik und althergebrachter Primitivitäts-Klischees lange Zeit übersehen, daß es sich bei Germanenstämmen um sehr differenzierte Gesellschaften mit (wenn auch ungeschriebener) Verfassung handelte. Diese Stammesverfassungen erlaubten, ganze Völkerschaften in die Gemeinschaft aufzunehmen und zu integrieren.
Zum andern stolpert rationelle Wissenschaft über ihre eigene Sichtweise: Denn die Vorstellungswelt der Germanen war keine rationale. (Darüber staunten bereits Römer, die mitansehen konnten, wie germanische Kriegergruppen ihre komplette Beute nach gelungenem Raubzug in den Fluß warfen, um die Schätze ihren Göttern zu opfern.)
Die Stämme selbst behaupteten wie gesagt, Abstammungsgesellschaften zu sein. Die Forschung bewies eindeutig, daß die Stämme genau das nicht waren. Hier treffen unvereinbare Weltbilder aufeinander: Wissenschaft lebt vom Vergleich handfester Tatsachen, die zeitlich linear, also chronologisch, datierbar sind oder datierbar sein müssen. Naturreligiöse Stammesgesellschaften dagegen haben ein zyklisches Weltverständnis: Für sie ist die Welt schon immer wie sie war, und die Mythen erklären in phantasiereichen Bildern höchstens, warum. Stammesgeschichte kennt (und braucht) keine Jahresdaten, sondern bildhafte und psychologisch stärkende Erklärungen über den ewigen Kreislauf des Lebens und Sterbens, sowie die eigene Rolle darin. Was über ein paar Generationen hinausgeht, ist graue Vorzeit. Gegenwärtige Realität und Sagenstoff vermengen sich ganz selbstverständlich. In naturreligiöser Vorstellungswelt bedingen sie einander. Zeitliche Linearität ist da wenig hilfreich und daher vollkommen uninteressant. Die innere Uhr des Stammes tickt nicht anders, sondern gar nicht (vielleicht explodiert sie deshalb auch nicht so leicht wie der klassische Nationalstaat. Aber Ernstfall beiseite).
Konkret auf die Germanen bezogen heißt das: Alle Stammesmitglieder leiten sich von einem göttlichen Urahn her. Die Betonung dieser rein spirituellen Komponente (die der realen Korrektheit überhaupt nicht bedarf) gründet auf der germanischen Vorstellung, daß eine Gemeinschaft ein gemeinsames Schicksal hat. Dieses ist personifiziert im heils- und glücksbringenden Schutzwesen der Hamingja, die den Haufen so oder so zusammengewürfelter Individuen zu einer Gemeinschaft erst macht.
Eine solche Auffassung ermöglicht die Integration nichtblutsverwandter Personen in germanische Gesellschaften was während der Völkerwanderung zahlreich geschah. Ebenso war die Aufnahme von Kriegsgefangenen als vollwertige Mitglieder in den Stamm möglich unter Wahrung der Integrität des Stammes. Mit der Zeit wurde auch die Aufnahme von Nichtangehörigen in die (germanentypischen) Kriegergefolgschaften üblich.
Nicht nur das große Europa war von vornherein eine Mischkultur aus keltischen, römischen, hunnischen, slawischen, türkischen, semitischen und sonstwelchen Einflüssen; nicht nur die keltischen, griechischen, mediterranen und germanischen Völker waren von vornherein Ergebnisse der Vermischung alteingesessener Europäer mit asiatischen Einwanderern auch den germanischen Stämmen selbst wäre der Gedanke an "rassische Reinheit" so absurd vorgekommen wie ein aufwärtsfließender Fluß oder die Umkehrung der Schwerkraft (mal davon abgesehen, daß konsequente "rassische Reinheit" auf pure Inzucht und damit generative Debilität, also auch biologischen Schwachsinn, hinausläuft). Die Abstammungsbehauptungen der Stämme sind ausschließlich in ihrem spirituellen Kontext begreifbar und nur in diesem logisch.
Das hängt wiederum mit dem besonderen germanischen Begriff des Heils zusammen. Das Heil einer Gemeinschaft erwies sich an ihrem Überleben, Erfolg und Glück. Metaphysisch war die Hamingja die Heilsträgerin des Stammes, auf der materiellen Ebene war es der Sakralkönig. Dieser unterlag ungemein strengen Lebensregeln. Dem Sakralkönig als Heilsträger war es weder politisch, noch physisch, noch ökonomisch möglich, Gewalt gegen Stammesmitglieder auszuüben. Sein Amt war repräsentativ, spirituell und charismatisch. Eine intensive Erläuterung des germanischen Heils- und Ehrbegriffs würde hier zu weit führen, zumal dafür die ganze Komplexität germanischer Religions- und Rechtsbegriffe in ihren (uns durchaus fremden) Einzelheiten erörtert werden müßte. Vereinfachend läßt sich, am Beispiel des Sakralkönigs, die Formel aufstellen: Erfolg der Gemeinschaft war der Verdienst des Heilträgers Mißerfolg seine Verantwortung. Diese Verantwortung war spirituell begründet und ging damit über heutiges Verständnis weit hinaus. So konnte es z.B. passieren, daß ein Stamm, der sich (bzw. seine "Abstammung") über den Fruchtbarkeitsgott Freyr definierte, das Leben seines Sakralkönigs opferte, wenn die Ernte mal zu schlecht ausfiel oder ein Unwetter sie gründlich genug verhagelte.
Man übertrage spaßeshalber dieses System auf heutige oder gestrige politische Verhältnisse kaum ein deutscher Bundestags-Mandatsträger, geschweige denn ein Diktator, hätte es im germanischen Gesellschaftssystem sonderlich weit gebracht. Man stelle sich vor: je höher das Amt, desto unfreier der Amtsträger soziale Kontrolle statt Abgeordneten-Immunität, im Erfolgsfall höhere Ehre statt höherer Diäten, im Mißerfolgsfall persönlich haftende Verantwortung statt lebenslanger Rentenbezug auf Steuerzahlerkosten. Lang, lang ist΄s her. Und natürlich läßt sich dieserart Ruhm gewinnen, aber kein Staat lenken.
Ein historisches Beispiel dafür ist die Geschichte von Ariovist, einem König der Sueben. Bereits seit längerer Zeit hatten suebische Gefolgschaften einige sehr erfolgreiche Kriegszüge nach Gallien unternommen. Die Gefolgschaftsführer erlangten dadurch ungeheures Prestige. Die Folge: mehr Gefolgsleute strömten ihnen zu, die Beutezüge wurden noch erfolgreicher. Das Prestige der Sueben steigerte sich derart, daß sie andere Stämme zu assimilieren begannen, die am Erfolg und am Heil der Sueben teilhaben wollten. Dadurch wurden die Sueben immer mächtiger, mit der Folge, daß auch die Kriegszüge immer reichere Beute brachten. Nach diesem Prinzip schaukelte es sich hoch, die Dynamik wuchs über die Beteiligten hinaus.Das wiederum zog weitere Assimilierungen nach sich. Schließlich begab sich der Suebenkönig Ariovist persönlich nach Gallien, die Mehrzahl der Sueben folgte ihm. Nicht nur die Kriegergefolgschaften, der ganze Stamm kam in Bewegung, in Gallien breitete sich Panik aus. Indes genügte eine einzige Niederlage gegen die römischen Legionen, um den Spuk zu beenden: Das Heil hatte Ariovist verlassen, und damit den Stamm. Ariovist überlebte, tauchte aber als politischer Faktor nicht mehr auf. Dies zeigt nicht nur den Einfluß der Gefolgschaften auf die germanischen Stämme, sondern vor allem die wortwörtlich magische Anziehungskraft des Heils.
Dieses Heilsverständnis und der Umgang damit mag vielleicht ans irrational motivierte Auf und Ab moderner Börsenkurse erinnern. Von der nazideutschen Führerhörigkeit mit ihrem Gehorsamsfatalismus bis zum Untergang aber ist es so weit entfernt wie Hitler vom Blondsein und seinen sonstigen "arischen" Idealen.
Die Befugnisse germanischer Befehlsgeber waren eng begrenzt, ihre Macht nur geliehen. Gegen die spirituell tradierten Sitten und Interessen der Gemeinschaft konnte keiner Führer werden: ganz schlechte Chancen für Revolutionäre und Despoten.
Und die berüchtigte "Nibelungentreue"? In der Sage versprechen die Hunnen den (unterlegenen) Burgundern freien Abzug unter der Bedingung, ihren König und seine Brüder auszuliefern. Die Burgunder weigern sich, weil der Verlust der Heilsträger den Stamm die Identität gekostet (und die Überlebenden zu heillosen, unglücksverfolgten Niemanden gemacht) hätte. Sie zogen es vor, im Besitz des Heils zu sterben, anstatt ihre Heilsrepräsentanten zu verraten. Was burgundische Könige von deutschen Hitlers oder Himmlers unterscheidet, ist der Umstand, daß erstere tatsächlich (also im bereits beschriebenen Sinne) Heilsträger waren, sich dem Stamm als solche erwiesen hatten. Was man von den ehrlosen Braunhemden mit ihren von vornherein asozialen und gemeinschaftsfeindlichen Umtrieben nicht behaupten kann.
Treue ist demnach ein äußerst zweischneidiger Begriff. Um kein Unheil auszulösen, erfordert er zwangsläufig eine zweifache, also gegenseitige Absicherung. Im germanischen Fall findet die einerseits weltlich, anderseits spirituell statt.
Sowieso mißverständlich ist der Begriff von Führerschaft, ob es nun um Dróttinns, Drichten, Truchsesse, Häuptlinge oder Könige geht: Oberste Instanz größerer germanischer Gemeinschaften war nicht eine Person, sondern das (oder der) Thing: eine demokratische Volksversammlung in spirituellem Kontext. Das letzte Wort hatte, im Namen der wachenden Götter, die abstimmende Gemeinschaft.
In schriftlosen Kulturen ist ein Wortbruch schlimmer als bei sog. Zivilisierten die Nichterfüllung von Schriftverträgen, denn er macht ehrlos: nicht nur vor der Gemeinschaft, sondern auch vor deren Göttern.
Germanisches Weltverständnis
Als die Sau noch Göttin war, hatten΄s die Schweine besser sie wurden nicht mit unliebsamen Menschen verglichen, sondern galten als heilig. Daß Vieh und Volk sich die Schlafräume teilten, mag pragmatische Gründe gehabt haben es ist halt wärmer im Kabuff, wenn΄s draußen schneit und frostet. Parfümfans mögen die Nase rümpfen, doch für die naturreligiösen Germanen hatten Tiere und Gottheiten oft denselben Stallgeruch. Man fühlte sich umgeben von einer Unzahl benamter Gestalten mit unheimlichen Kräften; mit den einen mußte man sich gut stellen, damit sie einem die anderen vom Leibe hielten; der Alltag war magisch und das Spirituelle alltäglich, die ganze Welt war beseelt, voller Sinn und Bedeutung. Das Getreide auf dem Feld galt als das goldene Haar der Göttin Sif, der Gattin des erdverbundenen Donnergottes Thor, der die Menschheit beschützte vor den Riesen. Riesen, das waren der bösartige Gletscher weiter nördlich oder die Lawine vom vorigen Jahr, der gefürchtete Hagel vor dem Herbst oder die plötzliche Feuersbrunst aber auch die liebreizende Gjerda, die immer im Frühling kommt, um als blühende Vegetation die Erde neu zu beleben. Man huldigte Mani, dem bleichen Nachtauge am Himmel, und wenn der nicht mehr zu sehen war, stand der Mond unter dem Einfluß von Bil, der Schwarzmondgöttin. Im tiefen Wald tanzten Elfen, in den Flüssen wohnten die Nymphen, das Haus bewachten Kobolde, denen geopfert wurde, und als Stützen des Himmelsgewölbes wußte man vier weit entfernte Zwerge mit den sinnigen Namen Austri, Sudri, Westri und Nordri. Ehrfürchtig gewahrte man den Regenbogen als Bifröst, die Brücke zu den Göttern des Bewußtseins, den Asen. Ausgefeilte Bestattungsriten sorgten dafür, daß keine toten Menschen umgingen in den Häusern der Lebenden (obschon man an ihre baldige Reinkarnation glaubte); dem alljährlichen Wiedererwachen der Erdgöttin Nerthus aber widmete man ausgelassene Umzüge mit geschmückten Wagen quer durch die Dörfer.
Ähnlichkeiten zum katholischen Fronleichnam oder Karneval u.ä. sind selbstverständlich rein zufällig, ebenso wie Weihnachten, Ostern, Lichtmeß oder Allerseelen. Tatsächlich ist das einzige heidnische Fest, das der christlichen Umdeutung entging, Beltane, besser bekannt als Walpurgisnacht. Das war kein germanisches, sondern ein keltisches Fest für den Feuergott Bel und die menschliche Sinnenlust. Letztere wird den Germanen ja gern abgesprochen, was nicht zuletzt an Tacitus liegt, der dem Brot-und-Spiele-Zirkus seiner römischen Zeitgenossen unbedingt die moralischen Wilden entgegensetzen wollte, bei welchen eben "keine heimlichen Briefchen zwischen Unverheirateten kursieren" (wie auch: waren ja Analphabeten). Die Skandinavier jedoch bildeten den Fruchtbarkeitsgott Freyr ab mit einem Phallus, fast so lang wie die ganze Götterfigur; und der Volksbrauch der Wölsi-Verehrung hat sich, wenn auch bereits christlich angeschmäht, bis in die Edda gerettet (ein Wölsi ist ein Gegenstand zu nicht mehr bekannten Kultzwecken. Es handelt sich dabei um das irgendwie ohne künstliche Konservierungsstoffe haltbar gemachte Geschlechtsteil eines ausgewachsenen Hengstes).
Der geheimnisvolle Kriegs- und Totengott Odin (im Süden in einfacherer und älterer Form als Sturmgott Wodan verehrt) war aufgrund seines äußerst zwiespältigen Charakters und seiner verschlungenen schamanischen Lehren wohl kaum eine Konkurrenz für das aufkommende Christentum mit seinen einfachen Heilsversprechen den Kult der Freyja verfolgten und zerstörten die Missionare jedoch mit Inbrunst.
Freyja, die schillerndste weibliche Gestalt des germanischen Götterhimmels, verkörperte die freie Frau in jeder möglichen Hinsicht. Freyja bedeutet einfach "Herrin", doch Namen hatte sie viele. Moderne Forscher haben sich generationenlang die Köpfe zerbrochen über das Fehlen eines germanischen Sonnengottes. Baldur ließ sich dazu nicht machen ein Lichtgott mochte er sein, aber sein Mythos rankt sich zu sehr um seine Ermordung, die das Götterschicksal einläutet, die Ragnarök Analogien zur Sonne lassen sich da schwerlich (er-)finden. Man hat versucht, Freyja in ihrer Erscheinungsform als Mardψll in einer Lesart "die Pferdefrohe", in einer anderen "die das Meer Erleuchtende" als eine Art nordische Meeresnixe zu deuten. Ich persönlich habe noch nie gehört oder gesehen, daß Nixen leuchten. Als Erleuchtung kam mir die Sonne. Wer sonst "erleuchtet" das Meer? Ihre Mythen sind vielfältig. Für die einen umfährt sie das Erdenrund auf einem Wagen, der von Katzen gezogen wird; den anderen fällt ihre Geilheit auf: "...wie zwischen Böcken die Ziege rennt", wird in der Edda Freyjas Neigung zu wechselnden Liebschaften beschrieben. Sicherlich ist ihr Charakter kätzisch: Liebe, Hexerei und Krieg sind die Hauptressorts der Vanadis, der Vanen-Dise, der berühmtesten der Vanen jener Gottheiten der Instinkte, des Intuitiven und des sinnlichen Gedeihens (in symbiotischem Kontrast zu den Bewußtseinsgöttern, den Asen. Obwohl sich eine genaue Grenze zwischen den beiden germanischen Göttergeschlechtern nicht ziehen läßt. Nicht als einzige zählt man Freyja mal zu den einen, mal zu den anderen). Einer ihrer Namen leiht diesem Vortrag den Titel. Denn die Germanen riefen ihre große Herrin auch Syr, das heißt wortwörtlich Sau.
Meine Deutung von Syr, Mardψll, Vanadis oder Freyja als germanische Sonnengöttin wird unterstützt vom Mythos des Brisingamen, Freyjas magischem Halsschmuck, dessen Sinn und Zweck darin besteht, unglaublich hell und strahlend zu leuchten; außerdem wird seine Trägerin als die "tränenschöne Göttin" besungen. Nicht im Sinne von Heulsuse: Vielmehr heißt es, man könne diese Göttin nicht betrachten, ohne tränende Augen zu bekommen. Nachdem das Tränengas noch nicht erfunden war, bleibt als einzige mögliche Erklärung eigentlich nur die große Sonne übrig. (Die Sonnengöttin-Theorie wird auch von anderen vertreten, aber das sind wie ich alles keine Wissenschaftler. Es mag also wahrscheinlich sein, bleibt jedoch strenggenommen spekulativ. Immerhin würde es endlich erklären, warum Tacitus standhaft behauptete, die Germanen hätten "Sonne und Mond" angebetet.)
Doch hinter der scheinbar primitiven Verehrung augenfälliger Naturerscheinungen verbirgt sich bei so manchem Naturvolk eine nicht zu unterschätzende Kosmologie:
Bei den Germanen rankt sie sich um einen Weltenbaum, der auch in seriösen Quellen meist als "Weltesche" bezeichnet wird. Meiner Auffassung nach handelt es sich dabei um einen Übersetzungsfehler: Der altnordische Begriff "barraskr" bedeutet wortwörtlich "Winteresche", womit ein Baum gemeint ist, der auch im Winter grünt. Das ist bei einer Esche (Fraxinus excelsior) aber nicht der Fall, und die immergrüne Eigenschaft des Weltenbaums wird in den alten Quellen mehrfach betont. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es sich bei der mythischen Weltachse der Germanen um einen Baum der Sorte Taxus baccata handelt, auf deutsch: Eibe.
Von allen europäischen Baumsorten ist ihr Holz das härteste und wächst bei weitem am langsamsten. Nicht nur ihre Seltenheit machte die Eibe schon früh heilig (Buchenwälder verdrängten die Eibenwälder zu Zeiten, als die Menschen noch keine Bäume fällen konnten), sondern auch und vor allem die Tatsache, daß dieser Baum in der Sommerzeit ein halluzinogenes Gas ausströmt, an welchem man sich regelrecht berauschen kann oder unversehens berauscht wird, wenn man auf diesen Umstand nicht vorbereitet ist. Eiben lieferten das haltbarste und beste Holz für Pfeil und Bogen, und den Schnee- und Jagdgott Ullr wußte man zuhause in Ydalir, das heißt Eibental.
Im ältesten germanischen Runensystem, das von mindestens 100 v.Chr. bis etwa 700 n.Chr. in Gebrauch war, dem sog. Älteren Futhark (benannt nach den ersten sechs Runen Fehu, Uruz, Thurisaz, Ansuz und Kenaz), hat die Eibe eine zentrale Bedeutung: Als dreizehnte Rune liegt sie nicht nur in der Mitte des 24 Runen umfassenden Systems, das aus drei Achterreihen besteht, sondern ist auch der Dreh- und Angelpunkt der mittleren Reihe, der sog. Hels Ζtt oder Zauberer-Acht, deren Runenabfolge als Anleitung für einen Initiationsweg gelesen werden kann: den sog. Helsweg. Die Eibenrune Eiwaz folgt der Jera, die das Jahresrad bzw. den Zeitenzyklus symbolisiert, und bringt diese(n) erst in Bewegung. Auf Eiwaz wiederum folgt die Wiedergeburts- und Weisheitsrune Perthro. Außer der Eibe ist im Älteren Futhark nur eine einzige weitere Rune einem Baum gewidmet, und zwar die 18. Rune Berkana, die als Birke u.a. für Mütterlichkeit, Fürsorge und Nestwärme steht. Für die Esche gibt es keine Rune in diesem System.
Die germanische Religion war diesseitsorientiert und ohne nennenswerte Paradiesvorstellungen oder Heilsversprechen (der Mythos von Walhall, wo die gefallenen Krieger Odins bewirtet werden, ist eine späte Ausformung aus der kriegerischen Völkerwanderungszeit). Den Göttern übergeordnet waren die Nornir oder Nornen, die das Schicksalsgefüge verkörperten. Das germanische Denken kannte keine Zukunft in festgefügtem Sinne und ihre Sprache kein Futur. Die Gegenwart wurde als die Norne Verdandi, das heißt: die Werdende, begriffen. Das Fehlen eines Offenbarungs-Mythos ermöglichte individuelle Auslegungen und Kultformen im Gottesdienst. Das Heil hing mit den Göttern zusammen, wurde von diesen jedoch nicht gespendet, sondern auf der Erde durch menschliches Geschick und Ehre erworben. "Mattr ok megin", Macht und Vermögen das bezog sich auf die Fähigkeit des Einzelnen, in der rauhen Wirklichkeit zurechtzukommen, als deren Angelpunkt er sich begriff. Kein Glaube für Esoteriker.
Immerhin kannten die Germanen aber außer der Menschenwelt noch weitere acht. Alle Neune hängen an der besagten Welteibe: in der Mitte die Welt der Menschen, Midgard genannt, die als einzige "der Zeit unterworfen" ist, wie es so schön heißt, und eine Art Bahnhof zu den anderen Welten darstellt. Acht weitere Welten aus Feuer und Eis, für Riesen, Elfen und Zwerge, für Fruchtbarkeits- und für Bewußtseinsgötter, nebst einer Wiedergeburts-Wartestation zu schildern, würde weitere acht Stunden füllen und viele meiner bislang geduldigen Zuhörer, wenn schon nicht dem Totenreich der Hel, dann doch immerhin dem Saalausgang viel zu nahe bringen ohne daß ich die Mysterien nähergebracht hätte. Ich beschränke mich hier auf das schon erwähnte Bild des Ausbalancierens von Spannungsverhältnissen, das für germanische Religion und Weltauffassung so typisch ist.
An der Wurzel des Baumes nagt der eher unsympathische Drache Nidhöggr, auf der Krone hockt ein seltsamerweise namenloser Adler, und die beiden können sich nicht riechen. Ein unermüdlich am Weltenbaumstamm rauf- und runterrasendes Eichhörnchen namens Ratatösk ist so freundlich, den Kontrahenten die gegenseitigen Schmähworte auszurichten. An den Knospen des Baumes nagen obendrein vier gewaltige Hirsche... Jagdlateiner unter uns wissen, was das heißt: Es kann nicht mehr lang dauern mit dem Baum, der auch Yggdrasill, Pferd des Schrecklichen, genannt wird, weil sich der schreckliche Odin mal zu Selbstfindungszwecken dran aufgehängt hat.
Und es dauert doch. Nichts klappt wie es soll, Odin hat nicht sich selbst, sondern die Runen gefunden, doch mußte für höhere Erkenntnisse wie bereits erwähnt ein Auge lassen; überhaupt ist sein Charakter eher zwie- bis vielspältig aber was soll man schon halten von einem intellektuellen Workoholic, der gleichzeitig Gott der Dichter und der Krieger ist und obendrein schamanisch tätig sein muß, wenn er nicht gerade im Aufsichtsrat der Asen hockt, wobei er sein Gedächtnis und seine Denkfähigkeit in Form von zwei Raben auslagert, von denen er regelmäßig Angst hat, daß sie mal nicht zurückkommen und vielleicht abstürzen wie uns heutzutage der Compy. Kein Wunder, daß Odin niemals ißt, sondern sich ausschließlich von Wein und Met ernährt. Und dafür hat er zu Tacitus΄ Zeiten den alten Himmelsgott Tyr, Teiwaz, Tiu oder Saxnot (je nach Stamm) abgelöst... Aber für einen, der als einfacher Sturmgeist angefangen hat, doch keine schlechte Karriere, oder?
Und was ist aus Tyr geworden? Der Gott der Schwüre und der Gerechtigkeit. Der hat nämlich seine rechte Hand eingebüßt, weil er einen Schwur eingehalten hat, der genaugenommen ein handfester Betrug war, wenn auch nur an einem Untier wie dem Wolfsmonster Fenrir. Selbst der Kraftprotz Thor ist nicht ohne Tadel: nicht nur wird er ohne seinen Hammer so hilflos, daß er sich verkleiden muß, er hat auch obendrein von irgendeinem Abenteuer einen Splitter in der Stirn. Wächtergott Heimdall hat von vornherein sehr seltsam angefangen, als Sohn von neun Müttern die wiederum sind die Töchter der Meeresgöttin Ran. Interessante Analogien ergibt das, wenn man Heimdall als den Gott des sozialen Miteinanders sieht und anderseits weiß, daß alles Leben aus dem Meer kommt.Aber ich wollte ja bei den Macken und Behinderungen bleiben.
Die einzige Gestalt im germanischen Götterhimmel, die einer Idealfigur nahekommt, ist der Lichtgott Baldur. Seine Behinderung besteht darin, daß er tot ist versehentlich erschossen von einem Gott namens Hödur, der an Blindheit leidet. Angestiftet wurde die Tat vom listigen Loki, auf den dann alle anderen Götter auch entsprechend sauer waren. Bei Loki weiß man nie, ob man ihm die Füße küssen oder ihn hochkant rausschmeißen soll er ist nämlich für die größten Katastrophen und Ungeheuer in der germanischen Mythologie ebenso verantwortlich wie für das Entstehen der wichtigsten Waffen und Helfer der Götter. Ganz sicher aber ist er nicht berechenbar. Die Totengöttin Hel ist ebenso seine Tochter wie die erdumspannende Midgardschlange Jörmungard; Loki ist der Vater des Wolfsmonsters Fenrir, aber auch die Mutter des achtbeinigen Götterrosses Sleipnir. Loki hatte sich nämlich in eine Stute verwandelt, um den Arbeitshengst eines Riesen von der Arbeit abzuhalten auf diese Art gewannen die Asen eine ziemlich hinterlistige Wette, die ihnen die Götterburg Asgard einbrachte und hätte Loki als Stute nicht den Hengst gevögelt, hätten die Götter ihre geliebte Vanen-Kollegin Freyja an die ungeschlachten Riesen ausliefern müssen. Alles klar? Loki ließ den zauberkräftigen Thorshammer Mjöllnir schmieden, stach aber dem das Werk ausführenden Zwerg Brock als Fliege so lange in die Augen, bis der sich das Blut rauswischen mußte, wodurch die Arbeit unterbrochen und der Stiel des Hammers ungewöhnlich kurz wurde. Loki ist Myrphy΄s Gesetz auf germanisch und der Ausweg daraus in einem, unberechenbar ist nur die aktuelle Reihenfolge. Und woher kommt dieser Loki? Genetisch ist er "reinrassiger" Riese durch Blutsbrüderschaft mit Odin wird er jedoch zum vollwertigen Asen. Dies nur als weiterer Hinweis dafür, daß germanische Lebensart vor keiner machbaren Vermischung zurückschreckt. Nicht nur die Mythen (angefangen bei der Vermischung der Asen und Vanen), auch die historische Entstehung und Entwicklung der Germanen ist eine einzige Geschichte der Artenvermischung. Fazit: Angst vor Fremden ist dem Germanen fremd!
Der Lustgott Freyr wiederum ist nicht nur ein sinnenfroher Liebhaber seiner eigenen Schwester Freyja sowie der (ebenfalls bereits erwähnten) Riesin Gjerda, die er dann unter Androhung von eher üblen Zaubereien heiratet (er droht ihr, nicht umgekehrt), sondern auch ein richtiger Kämpfer. Typisch germanisch, möchte man sagen. Nur: bei der Ragnarök, dem entscheidenden Schicksalskampf der Götter, ist Freyr leider waffenlos sein magisches Schwert hat er nämlich gerade an einen Kumpel verliehen, weshalb der Kampf auch des Happy Ends entbehrt. Dafür war Freyr vorher ein ziemlich großer Zampano, besaß er doch ein Hosentaschen-Faltboot, in das die ganze Götterwelt hineinpaßte, oder ein Schwert, das ebenso einen Felsen zerschlagen konnte wie stehend im Wasser eine herandümpelnde Flaumfeder spalten, haarscharf. Der Traum vom perfekten Equipment war demnach auch ein germanischer. Wahrscheinlich hat Freyr inzwischen einen rasend schnellen Pentium III½ , der nie abstürzt, außer, wenn man gerade das entscheidende Dokument ganz dringend braucht.
Womit nur gesagt sein soll: Die Geschichten hören nicht auf. Fängt man erst einmal an, sie zu verfolgen, verästeln sie sich geradezu labyrinthisch: hinter Gängen und Räumen warten weitere Türen; man findet auf Anhieb fast alles, nur keine Wegweiser.
Tatsache bleibt, daß die überbordende Vielfalt ihrer Götterwelt durchaus germanische Lebensauffassung widerspiegelt. Die Götter entstammen den Riesen, und am Schluß unterliegen sie diesen. Das Bewußtsein (symbolisiert durch die Götter) entstammt dem Unbewußten (symbolisiert durch die Riesen) und droht ständig wieder ins Unbewußte zurückzufallen: die Geschichte der Welt nur eine platzende Seifenblase im All. In den dazwischenliegenden Abenteuern sind die Götter ebensowenig perfekt wie die Menschen, denen sie als Vorbilder dienen das macht ihren praktischen Wert aus. Nicht unerreichbare Ideale oder ewige Paradiese werden angestrebt, sondern die Fähigkeit, mit den vorhandenen eigenen Macken zurechtzukommen. Immer wieder gefeiert und besungen: die Möglichkeit, trotz eklatanter Schwächen und mancher Chancenlosigkeit durchzukommen, bisweilen zu siegen. Die Altvorderen gaben sich Mühe, diese Mythen spannend und farbig zu gestalten. Spannende Geschichten erzählen für schriftlose Kulturen das einzige Mittel, praktisches Wissen, Lebensweisheit und (in gewissem Sinne) historischen Kontext zu vermitteln.
Sieht man sich die Kultur dieser Geschichtenerzähler an und verfolgt ihre Werdegänge in heutigem historischem Kontext, findet sich eine Erklärung für die Vielfalt: Sie ist ein Ergebnis von nicht nur äußerer, sondern auch und gerade innerer Beweglichkeit: Flexibilität. Germanische Stämme kannten kein "Volks-" oder Nationalgefühl aber sie schotteten sich nie ab, sondern nahmen alle Einflüsse von außen auf, die ihnen buchstäblich "in den Kram paßten" unter Wahrung ihrer kulturellen Integrität. Die verloren sie erst allmählich unter dem Zeichen des Kreuzes, seines hierarchisch und zentralistisch gesteuerten Kultes und seiner fixen Feindbilder.
Und trotzdem. Germanische Geschichte und Moral ist immer ein einziges, hintersinnig-trotziges "trotzdem". Die germanischen Götter haben ihren eigenen Untergang, die Römer, die Christen, und die Nazis überlebt, und sie funktionieren noch immer heute vielleicht besser denn je.
Schlußwort
In Zeiten des Wertewandels findet auch Werteverfall statt, und zur schon länger empfundenen Entfremdung von Instinkt und Natur gesellt sich heutzutage spirituelle Orientierungslosigkeit. Wer heute (z.B. im Internet, aber auch im richtigen Leben) auf Anhänger Wotans stößt, bekommt es meist mit (mehr oder weniger verkappten) Rassisten zu tun, die ihre verzerrten Germanenbilder aus denselben Quellen beziehen wie die alten Nazis, und diese braune Soße eifrig weiterreichen. Das ist kein spezifisch deutsches Phänomen, aber in Deutschland ist es am gefährlichsten: denn die Deutschen haben (nach Hitler und wegen ihm) ihre eigene Geschichte verdrängt wie kein anderes Volk. Wenn die alten Sagen und Mythen, die in vielfältiger Form bis in unsere Märchen hineinreichen, den neuen Nazis überlassen bleiben, ist die Gefahr eine doppelte. Zum einen verliert ein Volk, das sich den eigenen Mythen verweigert, seine Identität. Wer keine Identität spürt, vermißt eine und läßt sich womöglich eine diktieren. Das war eine der Grundvoraussetzungen für Hitlers Popularität. Zum anderen wird den neuen Rassisten mit den alten Mythen ein Werkzeug in die Hand gegeben, das sie nicht gebrauchen können, ohne es von oben bis unten zu besudeln. Ich hoffe, dazu beitragen zu können, daß es ihnen die Finger verbrennt.
Zum Abschluß möchte ich hier die evangelische Journalistin und Politologin Antje Schrupp zitieren, die einen vorbildlichen 5-Punkte-Katalog aufgestellt hat, anhand dessen sich sehr gut die Spreu vom Weizen trennen läßt:
Nicht alle Gruppen, die sich auf keltische oder germanische Kultur berufen, sind rechtsradikal. Wenn man hier pauschale Urteile ausspricht, befördert man letztlich den Versuch, rechtsradikaler Gruppen, sich als Märtyrer zu stilisieren. Wie aber kann man feststellen, ob eine Gruppe rassistische Ideologie vertritt? Denn wichtig ist diese Beurteilung ja nicht bei denen, die offen ausländerfeindlich, auftreten, sondern gerade bei solchen, die ihren Rassismus in ein spirituelles Gewand kleiden. Dazu hier einige Kriterien:
1.: Vorsicht, wenn Gruppen, die man nach ihrer Verbindung zu Neonazis fragt, mit einer Kritik an Hitler und der NSDAP antworten. In einem solchen Fall nach Himmler und der SS fragen.
(Nach dem Ende des Nationalsozialismus entstand im rechtsradikalen Milieu die Auffassung, die Hitler-Göring Gruppe und insbesondere die SA sei an dieser Niederlage schuld. Bis heute wird in entsprechenden rechtsradikalen Publikationen die SS als ordensähnlich organisierte Eliteeinheit als Gegenpol zur bürokratisierten NSDAP dargestellt. Nur die NSDAP sei untergegangen, die SS aber bestehe immer noch im Geheimen weiter, etwa indem sie durch Ufos ins Weltall geflogen sei oder in geheimer Mission in die Antarktis ausgewandert, wo sie bis heute den arischen Genpool reinhalten und pflegen. Dies zu wissen ist wichtig, wenn sich rechtsextreme Gruppen von Hitler und von der NSDAP distanzieren sie distanzieren sich nicht vom Nationalsozialismus, sondern beziehen Position in einer nazi-internen Auseinandersetzung.)
2.: Vorsicht, wenn sie viel von Europa reden. Fragen, ob auch Griechenland, Sizilien und Rumänien zu ihrem Europa gehören.
3.: Fragen, was sie von "gemischtrassigen" Ehen halten und in welcher spirituellen Tradition Kinder aus solchen Ehen stehen. Wenn die Antwort darauf schwammig bleibt, fragen, ob euer senegalesischer Verlobter auch Mitglied in der Gruppe werden kann.
4.: Vorsicht, wenn die Gruppe sich zwar als nichtrassistisch verstehen will, aber immer betont, daß sie unpolitisch sei. Wirklich nichtrassistische Heiden und Heidinnen haben ihr Verhältnis zum rechtsextremen Heidentum reflektiert und verstehen sich insofern durchaus als politisch.
5.: Vorsicht, wenn auf geheime Traditionen Bezug genommen wird, wenn behauptet wird, die "Wahrheit" über keltische oder germanische Religiosität zu kennen. Heiden, die wirklich an dieser Tradition interessiert sind, wissen, daß man darüber nichts weiß, und geben zu, daß sie ihre Rituale zu einem großen Teil neu erfunden haben.
(Antje Schrupp)
Dem möchte ich nur noch meine persönliche Abwandlung jenes Met-Blödelverses hinzufügen, mit dem mein Vortrag begann:
Die neuen Nazis krakeelen
Diesseits und jenseits des Rheins
Sie bauen auf Trümmern
Ihr Reich aus Irrtümern
Von Odin kriegen sie keins.
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Quellenverzeichnis
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Burri , Margrit: "Nachdenken über germanische Mythologie Wider Mißbrauch und Verfälschung", Schweizer Spiegel-Verlag, Raben Reihe 1982
Cohat , Yves: "Die Wikinger", Ravensburger 1990
Dahn , Felix: "Geschichte der Völkerwanderung", Emil Vollmer 1880
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Fillipetti , Hervé / Trotereau Janine: "Zauber, Riten und Symbole Magisches Brauchtum im Volksglauben", Pawlak 1992
Genzmer , Felix (Bearbeitung): "Die Edda Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Germanen", Diederichs 1981
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Hjórwardr D.G., Thurshöggr: "Corona Mundi Eine Untersuchung betreffs der wahren Natur des Lichts", HexenZeitSchrift Nr. 16, 4-94,
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Jaynes , Julian: "Der Ursprung des Bewußtseins", Rohwolt 1990
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König , Marie E.P.: "Am Anfang der Kultur Die Zeichensprache des frühen Menschen", Zweitausendeins 1973
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Lengyel , Lancelot: "Das geheime Wissen der Kelten enträtselt aus druidisch-keltischer Mystik und Symbolik", Bauer 1990
Magnusson , Magnus: "Der Hammer des Nordens", Herder
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Odhinnson D.G., Asathor: "Eine altnordische Struktur der Asatrú Kulturelle und begriffliche Einführung, und Kodex", Kodex der Nornirs Ζtt 1995 (erhältlich über den Autor des Vortrags)
Pörtner , Rudolf: "Bevor die Römer kamen Städte und Stätten deutscher Urgeschichte", Weltbild 1996
Schmoeckel , Reinhard: "Die Indoeuropäer Aufbruch aus der Vorgeschichte", Bastei-Lübbe 1999
Schrupp , Antje: "Von neuen Mythen und alten Göttern Die religiösen Mythen der Rechtsradikalen", Vortrag der Autorin vom 1.9.1999 bei der Katholischen Hochschulgemeinde Frankfurt (Broschüre erhältlich unter: www.gep.de/verlag/buecher.html )
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Simrock , Karl (Bearbeitung): "Die Edda", Phaidon 1987
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von Dülmen (Hrsg): "Hexenwelten Magie und Imagination", Fischer 1987
von Schnurbein , Stefanie: "Göttertrost in Wendezeiten Neugermanisches Heidentum zwischen New Age und Rechtsradikalismus", Claudius Kontur 1993
Wöller , Waltraud / Wöller, Matthias: "Es war einmal... Illustrierte Geschichte des Märchens", Edition Leipzig 1990
Wolfram , Herwig: "Die Germanen", Beck΄sche Reihe 1995
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